Christliche Kunstblätter, 92. Jg., 1954, Heft 1

gern mit Symbolen ausschmückte. Schließ lich ist zu bedenken, daß die Kunst des Nordens zu die.ser Zeit allein auf das Orna ment beschränkt war und also in ihm die einzige Gelegenheit fand, sich auszuspre chen. Die Schlange, die hier eine so große Rolle spielt, erscheint bei vielen Völkern als Sym bol der Fruchtbarkeit, des Lebens und der Lebenskraft: oft im phallischen Sinn, oft als Symbol der Gesundheit und Wiederher stellung wie in der Schlange, die sich um den Stab des Äskulap oder der Hygieia windet. Auch bei den nordischen Völkern bedeu tet die Schlange Symbol der Fruchtbarkeit und des Lebens: der Archäologe Oskar Almgren hat dies unzweifelhaft bei schwe dischen Felsenzeichnungen nachgewiesen. Da die Runenschrift einem Grabstein galt, und meistens eine Bitte enthielt, so mag das Rahmenwerk eines solchen Spruchbandes ähnliches ausgedrückt haben: eine Art Le bensbeschwörung mit dem Geschlinge und der Bemalung von roten und schwarzen Farben. * Die Runenstein-Kultur hängt mit einem historischen Ereignis zusammen, das ,,Wikingertum" heißt. Im neunten Jahrhundert sammeln sich in Dänemark, Schweden und Norwegen Organisationen von Freibeutern, die die Küsten Hollands, Englands, Irlands, Frankreichs überfallen und verheeren und im Süden bis Gibraltar und Afrika, im Osten bis Nowgorod, an die Wolga und bis in das Kaiserreich Byzanz dringen. Der Anstoß zu dieser spätesten Völkerwande rung Europas, vor welcher die christlichen Völker der Küstenstriche erzitterten, mö gen Armut und Isolierung der nordischen Bauernkultur gewesen sein. Das Wikingertum ist ein verzweifelter Versuch, dem ge schichtlosen Zustand zu entrinnen, der den Nordmenschen zwar an eine mütterliche Natur band, aber vom übrigen Europa fern hielt. Etwas von diesem Ringen wetter leuchtet noch in Peer Gynts und Brands Kampf gegen ihre Mütter oder in Strindbergs verzweifelter Gegenwehr gegen müt terliche Übermacht, obgleich Ibsen und •Strindberg zugleich Dichter der Mutter sehnsucht sind. Immerhin: das aus Lust nach Beute sich entwickelte Großpiratentum der Wikinger, das Gewalttaten von unerhör8 tem Maß auslÖ.ste — wahre Rasereien"von Mord und Schändung — gehört zu den antimütterlichen Manifestationen, zu den Orgien der Männlichkeit in der Welt geschichte. Der Runenstein scheint nun in gewisser Hinsicht damit zusammenzuhängen. Vor seinem Auftauchen gab es ja im Norden nichts, was sich auf das Dasein außerhalb des täglichen Lebens bezog: keine Schrift, die Geschichte in Büchern aufzeichnete, keine Kunst, keine Plastik oder Architek tur, die Denkmäler von Stein der Nach welt hinterlassen konnte, sondern nur ein gewisses Kunsthandwerk, das sich in der Ornamentierung von Waffen, Schiffen, Ge brauchsdingen erschöpfte. Das Hauptmate rial war das Holz. Es war der Zustand von Naturbarbaren, deren Stämme und groß bäuerliche Fürsten einander bekämpften, ohne jemals die Einheit eines Reiches er reichen zu können. In dem neuen künstlerischen Ausdruck und Willen, zu überdauern, der sich im Runenstein kundgibt, manifestiert sich nun ein ähnliches Erwachen wie im Aufbruch der Wikinger Skandinaviens. Beider Er scheinungen hängen unzweifelhaft mitein ander zusammen. Die Schlangen und Dra chen der Ornamente entsprechen den Dra chen der Wikingerschiffe, und es ist auch kein Zufall, daß das berühmte Osebergschiff, das 1903 in der Nähe von Oslo aus gegraben wurde und dessen herrliche Schnitzereien an die Tierornamentik der Runensteine erinnern, einer Wikingerköni gin gehört hat. Zum erstenmal geschieht es im Norden des ersten Jahrtausends, daß man das An denken an Gefallene mit kurzen, aber feier lichen Worten dem Gedächtnis der Nach welt übergibt. So weisen manche Inschriften von schwedischen Bauerndörfern in große Historie. Der Stein von Kimstad erwähnt, einen Justen, der sich wahrscheinlich an der Wikingerflotte von Gudmund Stigitanson und Olav Tryggvasson beteiligt hat, die 991 in die Themse eingelaufen ist. Der Stein von Lyhundra berichtet von einem Sven, der in Jütland starb, ehe er die Flotte von Knut dem Großen von Dänemark 1015 nach England folgen konnte; der große Triumph der Wikinger, über das Inselreich zu herr schen, war dem schwedischen Bauernfürsten also nicht vergönnt. Der Stein von Ulunda erwähnt einen Horse, dessen Namen

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