Vom Boom zum Bürgerkrieg

Vordergründig scheitert die Demokratie in Österreich deshalb, wei l sie zuwen igRückhalt hat. Bereits einige Jahre vor 1934 entwickelt sichauf Regierungsebene als Antwort auf dieökonomischeKrise ein autoritärer Konsens. Motoren der Entwicklung sind die paramilitärischen Heimwehren und führende Köpfe der Christlichsozialen. DieSozialdemokratie bekennt sich demgegenüber zwar zur Demokratie, hat aber die Bürde einer unentschlossenen Führung zu tragen, die den Entwicklungen jedoch passiv gegenübersteht. Parallel wandert die Wählerschaft der Großdeutschen nahezu geschlossen weiter nach rechts zu den Nazis. Als sich die Gelegenheit bietet, nutzt die Reg ierung Dollfuß ab 1933 die Gunst der Stunde, um schrittweise Demokratie und Rechtsstaat zu demontieren. Auch wenn das Ständeregime den Nationalsozialismus rhetorischbekämpft, schaffen dieaustrofaschistischen Jahre invielerlei Hinsicht eine Situation , die dem Faschismus nationalsozialistischer Prägung letztendlich den Weg ebnet. Mit anderenWorten: Nicht alleindiewirtschaftliche Kri se, sondern auch die verfehlte Krisenpolitik ist das Prob lem. Di ese läuft darauf hinaus, soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Polarisierungzum Vorteil der eigenen Kli entel und zum Nachte il jener des po liti schen Gegners we iter zu verstärken. Die Ergebnisse dieser Poli tik sind bekannt - insbesondere in Steyr, das zum Sinnbild für die damali ge soziale Not wird: Erwerbslosigke it, Verarmung, Mangelernährung, Wohnungsnot und Entwürdigung prägen den All tag und produzieren „Angstrohstoff" am laufenden Band. ,,Die Tragödie des 20. Jahrhunderts zeigt, dass solcher Angstrohstoff nicht lange unbearbeitet bleibt, vielmehr findet er schnell Abnehmer, dieihn für das Arsenal menschenfeindl icher Strategien Literatur: Hackl, Eri ch: ImKältefieber. In: Die Presse, 25. 01. 2014. Jessen, Jens: Jahrhundertkrieg. In: DieZeit, 09.01.201 4. sehr gut gebrauchen können" , so Oskar Negt über die Rückwirkungen auf das poli tische System. Dass es dabei grundsätzlich auch anders hätte kommen können, zeigt die Entwicklung der USA unter Präsident Roosevelt zur selben Zeit. Der Historiker Tony Judt spricht davon , dass wir uns heute längst in einem neuen Zeitalter der Unsicherheit befinden. Angesichts dessen regt er nachdrückl ichdazu an, dieAuseinandersetzung mit den 1920erund 1930er-Jahren neu zu beleben - auch um zu lernen, wiedie letzte Generation, die von extremer Unsicherheit betroffen war, auf diese Herausforderungen und Bedrohungen reag iert hat. Einezentrale Lehre, die inEuropa nach 1945 ausder skizzierten Entwicklung gezogenwird, ist die Errichtung des Sozialstaats. Dieser steht heute sichtlich unter Druck. Dieaus historischer Erfahrunggewonnene Erkenntnis, dass Angst keine gute Ratgeberin für das demokratische Miteinander ist, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Damit gehen enorme Gefahren einher. „Also müssen wir unszuerst dieErrungenschaftendes 20. Jahrhunderts in Erinnerung rufen und fragen, welche Konsequenzen ein überstü rzter Abbau haben würde.... Wir müssen uns wieder in Erinnerung rufen, dass all diese Dinge noch 1929 völlig undenkbar waren . Wir sind die Nutzn ießer dieser Transformati on beispiellosen Ausmaßes. Wir haben viel zu verteidigen", schreibt ein von schwerer Krankheit gezeichneter TonyJudt ku rz vor se inemTod . In diesenWortensteckt nicht ohneGrund eine gewisse Dringlichkeit. Sie sind Inspiration undWeckruf zugleich. Zu verhindern, dass sich eine „große Tragöd ie" als „lumpige Farce" wiederholt, li egt schli eßlich immer noch an uns. Judt, Tony: DemLandgeht esschlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit. - Frankfurt am Main 2014. Keynes, John Maynard: Die wirtschaftlichen Folgendes Friedensvertrages. - München/Leipzig 1920. Marx, Karl : Der achtzehnteBrumaire desLouis Bonaparte. - Berlin 1972. Negt, Oskar: Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen. - Göttingen 2012. Novick, Peter: Nachdem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. - München 2003. Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. - Frankfurt am Main 2013. 27

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