1914 und der Erste Weltkrieg Der Journalist und Publizist Jens Jessen konstatiert in der Wochenzeitung „Die Zeit" zu Jahresbeginn 2014 ein neues Interesse an den Ereignissen des Jahres 1914. Der Erste Weltkrieg erhält Jessen zufolge deshalb ungeahnte Gegenwartsrelevanz, weil uns seine Folgen offensichtlich länger zu schaffen machen als die des Zweiten . Ein zentraler Grund ist für ihn die Hinterlassenschaft der Friedensverträge von 1918. Diese brachten neue Staaten , neue Grenzen und neue Konflikte hervor, die uns in der politischen Landschaft Mittel - und Osteuropas bis heute begegnen. John Maynard Keynes' denkwürdige Prognose von 1919, die Friedensverträge würden ein „leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa" produzieren, erlangte nicht ohne Grund traurige Berühmtheit. Dass das vereinte Europa eine direkte Reaktion auf diese Geschichte ist, kann und darf bei aller berechtigten Kritik an den Verhältnissen niemals aus dem Blickfeld geraten . So wären wir in unserer heutigen Europadiskussion vermutlich gut beraten , an die Einschätzung von Keynes zu denken, dass Frieden nur dann von Dauer sein kann, wenn er zwischen Akteuren geschlossen wird, die sich als Partner auf Augenhöhe begegnen und bereit sind , dafür auch etwas zu investieren. Ein zweiter Eckpfeiler der Diskussion ist die Abkehr von der Kriegsschuldfrage zugunsten der Betonung eines generellen Elitenversagens. Unabhängig von der Haltbarkeit dieser These scheint es kein Zufall zu sein, dass ihre Popularität mit einem Zeitgeist einhergeht, der von deutlich gesunkenem Vertrauen in das politische Establishment gekennzeichnet ist. Die Stoßrichtung dieser Auffassung ist sicher nicht ganz unproblematisch, regt aber auch dazu an ,Autoritäten kritisch zu hinterfragen. Dies ist absolut notwendig ineiner Demokratie. Eine Möglichkeit, die Geschichte in die Gegenwart zu holen, wäre eine Diskussion der Frage, wie wir angesichts der desaströsen Erfahrungen mit den „Eliten" von 1914 heute mit der Macht von Akteuren umgehen wollen, deren Wirken zwar die Allgemeinheit betrifft, die dieser aber keinerlei Rechtfertigung schuldig sind. Februarvermächtnisse Nicht minder interessant zu beobachten: der 80. Jahrestag der Februarkämpfe 1934,verbunden mit der Veröffentlichung der ersten umfassenden literarischen Anthologie zum Thema (,,Im Kältefieber. Februargeschichten 1934"). In einem Essay in der „Presse" plädiert Mitherausgeber Erich Hackl für eine Neubewertung der Ereignisse. Im Zentrum seiner Argumentation steht die Tatsache, dass Österreich 1934 das erste Land ist, in dem die Demokratie mit Waffengewalt gegen den Faschismus verteidigt wird. Diese Geschichte müsse erzählt werden - gerade auch „weil in ihr Menschen vorkommen , die sich erhoben, als es geboten war, sich zuerheben". Angesichts einer von den NS-Jahren überschatteten ZeitgeschichteRezeption , die den Eindruck erwecke, ,, es gäbe in der Vergangenheit nichts, das Wert hätte, an das man anschließen, aus dem man Kraft oder Lehren für die Gegenwart ziehen könnte" , darf die Erzählung von Arbeiter/innen , die ihre prekäre Situation nicht passiv hinnehmen, nicht unter den Tisch fallen , so Hackl : ,,Eine wichtige Aufgabe der Geschichtswissenschaft - und der Literatur, meine ich - bestehe darin, solche Geschichten zu dokumentieren und weiterzugeben. Künftige Generationen könnten dann aus einem Fundus menschlicher Verhaltensmöglichkeiten schöpfen , der ihnen Orientierung für ihr eigenes Handeln bieten würde - und Hoffnung". Wie wichtig es insbesondere für jüngere Generationen ist, mit Geschichten über Mut und Courage in Kontakt zu kommen , kann in Zeiten der vielerorts empfundenen politischen Ohnmacht kaum überschätzt werden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer spricht sich in diesem Zusammenhang dafür aus, das Wünschen und das Träumen als „Produktivkräfte des Zukünftigen" gesellschaftlich zu rehabilitieren - ,, und zwar dringend". Widerstandserzählungen wie jene vom Februaraufstand beinhalten genau diese Zutaten. Der Blick auf den Februar verleitet zurecht dazu , nicht nur zu fragen, was war, sondern auch , was statt dessen hätte sein können. Auch Hackl betont diesen Aspekt. So unerträglich für ihn das Wissen vom ausgebliebenen Widerstand gegen den „Anschluss" 1938 ist, ,,so legitim ist die Vorstellung, dass gekämpft worden wäre, wenn die Sieger von 1934 das Angebot aus den Reihen der Besiegten angenommen hätten, sich gegen die Nazis zusammenzuschließen." Dazu kommt es bekanntlich nicht: 1938 wird „zur Vollstreckung des Unheils der Jahre zuvor". Die Jahre dazwischen Doch was steckt in den Jahren zwischen den historischen Zäsuren 1914 und 1934, den beiden Jahrzehnten zwischen dem Beginn des ersten hoch technisierten Massenkriegs und jenen Februartagen, als Demokratie und Rechtsstaat endgültig in die Brüche gehen? Die Geschehnisse jener Jahre zwischen den Kriegen sind das,was Negt als „geschichtliche Lernprovokation" bezeichnet: Ereignisse, welche die Gesamtverfassung einer Gesellschaft in Frage stellen und kollektive Lernprozesse erfordern. Hierzulande könnte sich in Anbetracht des langen Schattens der NSZeit dafür folgende Ausgangsfrage anbieten: Welche Strukturvoraussetzungen und Entwicklungsschritte machen den „Anschluss" und die bekannten Bilder vom März 1938 überhaupt erst möglich? Die Zeit von 1914 bis 1934 stellt mif Blick auf diese Frage eine Fülle an Antwortmöglichkeiten bereit. Insbesondere die Ausschaltung der Demokratie in den Jahren 1933/34 ist das eigentliche Schlüsselereignis, um alles Weitere verstehen zu können .
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