Entspannung für das Budget. WeitereEntlassungen inden Steyr-Werken ersticken aber jede Hoffnung im Keimund reduzieren den Mitarbeiterstand Anfang 1930 auf ziemlich genau 2.000, wodurchsich das Arbeitslosenpotential in Steyr auf 3.540 Personen erhöht. Die Negativspi rale beginnt sich immer schneller zudrehen. Aufgrund der ständig steigenden Arbeitslosigkei t sinkt die Lohnabgabe kontinuierlich und beträgt 1930 nur mehr dieHälfte, nämlich 387 .000 Schilling, gegenüber dem Vorjahr. Die Medien berichten zunächst österreichwei t, dann europawei t und schl ießlich sogar weltweit von den katastrophalenZuständen in Steyr. Dadurch fällt auch der eben erst zart erblühte Tourismus auf ein Minimum zurück. Der Magistrat versucht im Ei nvernehmen mit der Kaufmannschaft dieAbgabe von verbi lligten Lebensmitteln für Ausgesteuerte zu erreichen. Doch Hunger und Not steigen vonTag zu Tag .Am 24. Oktober 1931 legt der Fürsorgereferent der Stadt Anton Azwanger dieKarten auf den Tisch: ,,33% der Bewohner dieser Stadt, das sind rund 7.000 Personen, kennen einen gesättigten Magen und ein warmes Zimmer nur mehr vom Hörensagen".25 Mitten in diese dramatische und aussichtlose Zei t setzt der evangeli - sche Pfarrer von Steyr Hugo Fleischmann eine bemerkenswerte Aktion: Getragen von der Botschaft der Bergpredigt und finanziell unterstützt von Protestanten in Schweden und der Schweiz, kauft er am Fuße des Dambergs ein riesiges Grundstück und gibt ihm den Namen „Erdsegen" , viel leicht in Anlehnung an Peter Roseggers gleichnamigen Roman. Anschließend ermöglicht er zahlreichen notleidenden Steyrer Fami lien, sich auf demGrundstück kleine Hütten und Schrebergärten zur Selbstversorgung zu errichten. Bereits in den späten 1920er Jahren hatte Fleischmann beim Pfarrhaus im Bahnhofsviertel eine regelmäßige Kinderausspeisung eingeführt, die er später durch das Angebot für Erholungsaufenthalte in Deutschland und der Schweiz erweiterte. Kinderausspeisung im Garten der evangelischen Kirche in Steyr, ca. 1932. Foto: StadtarchivSteyr Mit all diesen Aktivitäten setzt Hugo Fl eischmann unübersehbareZeichen für ein soziales Miteinander undeinselbstloses Engagement der evangelischen Kirche in Steyr.26 Doch auch Persön lichkeiten aus der oftmals belächelten Schar der Kunstschaffenden setzen außergewöhnliche Akzente. Etwa die Literatin Enrica vonHandel-Mazzetti,die zunächst Geld, dannSachspenden nach Steyr schickt und wenig später einen flammenden Appell an die Künstler Europas richtet: ,,Menschenbrüder deutscher und fremder Nation, (. .. ), hellet der armen Stadt Steyr. Lasset dieStadt, (...)wo Schuberts Lindenbaum stand und Meister Blümelhuber den Domschlüssel gewaltig aus Stahl erwachsen ließ, die Stadt der „armen Magret" und der „Stephana Schwertner" nicht zugrunde gehen. Gezeichnet: Enrica von HandelMazzetti , Hermann Bahr, Franz Karl Ginzkey, Paula Grogger, Artur Fischer-Colbrie,Richard Krahlik, Wi lhelm Kienzl ,Richard Mayr und Josef Reiter. "27 Am 29. Dezember 1931 sieht sich Bürgermeister Sichlrader genötigt, dem Gemeinderat mitzuteilen, dass dieStadt am Ende ihrer Kräfteund somit bankrott sei. Man könne nicht einmal von Konkurs sprechen,wei l keine Konkursmasse mehr da sei, lässt er die geschockten Zuhörer wissen.2s. Der Fürsorgereferent packt das Grauen in Fakten und Bil der: ,,Fast 90%der Kinder inSteyr sind schwer unterernährt. Es gibt in Steyr Fami lien mit Kindern, deren einzige Nahrung seit Monaten dünne Wassersuppen sind , weil sie nicht einmal Kartoffel kaufen können, von Brot und Milch gar nicht zu reden. Es gibt in dieser Stadt Menschen, die tagelang im Bette bleiben müssen, weil sie ohne Heizmaterial sind und weder warme Kleider noch Schuhe haben"29. BeimArbeitsamt Steyr beträgt dieZahl der Arbeitsuchenden indes rund 7.000 Personen im Bezirk, davon 3.600 unmittelbar aus Steyr. Nach Wochen arktischer Kälte sind die Sachspenden , die aus aller Welt eintreffen, wieder nur ein Tropfen auf dem „heißen Stein": 10.000 Pakete Kakao, 12.000 Tafeln Schokolade, 1.000 Portionen Erbsensuppe und 100 kg Margarine können die Not nur für ein paar Tage lindern. Der Magistrat schafft es nach langwierigen Verhandlungen mit dem Gremiumder Kaufmannschaft, endlich die Abgabe von verbill igten Lebensmi tteln anArbeitslose und Ausgesteuerte im Stadtgebiet zu erreichen. Jene, die auf der ,,falschen Seite" stehen, sind ausgehungert und ausgeblutet bis auf die Knochen. Die Lage spitzt sichzu.30 Bürgermeister Sichl rader, sein Vize Azwanger und Magistratsdirektor Häuslmayr unternehmen fast wöchentlichFahrten zum Landeshauptmann nach Linz und zu den zuständigen Ministerien nach Wien, um die Situation für Steyr zu entspannen. Überall signalisiert man ihnen Wohl - wollen, doch konkrete Zusagen bleiben aus. Einzig und allein private Institutionen, Vereine und Personen aus dem In- und Ausland fühl en 25 StK 1933, S. 290 26 Festschrit 100 Jahre evang. Kirche in Steyr, S. 31 ff. 27 SIK. 1933,S. 320 28 SIK 1933, S. 305 29 SIK. 1933, S. 308 30 StK. 1931, S. 316
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