waltungstech ni sch „ad acta" gelegt wi rd. Im Frühjahr 1920 zieht ei ne Grippewelle in das Land, die vermut lich aus der so genannten „SpanischenGrippe" des Jahres 1918 hervorging und in Oberösterreich tausende Menschen tötet. 1o Das Jahr 1921 ist in den Bezirken Steyr, Steyr-Land und Kirchdorf geprägt von zah lreichen Enthüllungen und Weihen der Kriegerdenkmale. Schmerzvoll und oftmals nicht ohneWut und Hass gedenkendie Hinterbliebenen der toten „Helden". Ein Teil des Alltagsbil des sind auch die vielen bunten und teilweise orig inell gestalteten Notgeldscheine aus den einzel nen Gemeinden. Die Buchdruckerei Haas in Steyr wirbt mit dem Inserat: ,,Erste und größte Steyrer Notgeld-Zentrale, Steyr-Grünmarkt 7. Sämtliche Notgelder Deutsch-Österreichs sowie vom Deutschen Reiche jederzeit erhältlich"11. Hinter der Ku lisse des privaten und öffentlichen Lebens der Stadt Steyr beginnt ab 1916 die übermächtige Waffenfabrik wie ein leck geschlagenes Schiff zu schlingern und zu stampfen. Ihr Mitarbeiterstand schwankt in nur sieben Jahren (1916 - 1922) von knapp 16.000 bis 4.500. Die letz1e Entlassungswelle 1922 betrifft 2.100 Menschen, die damit neuerlich vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt die Automobilerzeugung der Waffenfabrik durch den ständigen Kursverfall der Krone konkurrenzfähig , doch mit ihrer Stabi lisierung und den fallenden Autopreisen auf dem Weltmarkt bricht der Export auf ein Minimum zusammen.12 Ratlosigkeit herrscht deshalb auch in der Bau-, Boden- und Sozialpoli ti k der Stadt. Einmal stehen unzählige Wohnungen leer, dann sind es wieder viel zu wen ige. Mit der Verlegung der Waffenfabrik hat besonders der Stadtteil Ennsdorf großen Aufschwung genommen. 1913 - 1922 entstanden allein hier 119 neue Häuser, wobei die markantesten in der Haratzmüllerstrasse 37 und entlang der Dukartstrasse ausgeführt werden. Ab 1923 wird es ziemlich still im Baugeschehen der Stadt. Zwar errichtet die „Arbeiterbau- und Wohnungsfürsorgegenossenschaft" bis 1925 noch 85 Wohnungen, doch dem groß propagierten General-Regulierungsplan entspricht das keineswegs 13. Das Jahr 1923 markiert einen ersten und wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der Stadt und Bevölkerung nach dem Neubeginn. Einerseits scheinen die tiefsten Wunden des Krieges langsam zu vernarben und damit ein halbwegs erträg li cher Alltag ei nzukehren, andererseitswerdendie Töne der jeweiligen Parteien und ihrer ,,Führer" wieder hörbar aggressiver. Zwischen den Fronten der Ideologien schließen sich Menschen aller Schichten zu visionären Gruppen zusammen und träumen vom „freien und neuen Menschen". Vereinigungen wie die ,,Freidenker", der „Wandervogel", die „Flamme", der „Udebund", die „Ergograten", die „Anthroposophen", die „Lebensreformer" und die „Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur" gründen sich und erhalten regen Zulauf. Während die Einen noch von Licht, Liebe und Aussöhnung träumen, zeigen die größeren Parteien bereits ihr wahres Gesicht und auch die Nationalsozialisten haben sich klammheimlich positioniert. Am 16. Juli 1923 kommt es im Gemeinderat zu heftigen Auseinandersetzungen wegen der Übernahme des ehemaligen „Marodenhauses" durch den Verein „die Kinderfreunde" und dessen Bestreben, ein Waisenhaus und Schülerheim darin einzurichten. Noch im Jänner wurde der Antrag für die Übergabe des Gebäudes an die Kinderfreunde mit großer Mehrheit im Gemeinderat abgesegnet, doch sechs Monate später fliegen bereits die Fetzen. ,,Bei der Berechnung der Adaptierungskosten durch die Stadt sei dem Beamten ein Fehler unterlaufen", berichtet die Steyrer Zeitung nicht ohne vorangestellte Hetz1iraden. ,,Statt der notwendigen 260 Mi ll ionen Kronen, habe er nur 26 Mil lionen veransch lagt. Die Sozialisten stellen daher den Antrag, die fehlenden 234 Millionen zu bewi ll igen und statt einer Baufirma das städtische Bauamt zu beauftragen, die Adaptierung in Eigenregie durchzuführen", heißt es weiter. Die Opposition schäumt vor Wut. Die Mandatare befetzen einander. Der großdeutsche Gemeinderat Hummer beschwert sich, dass ihn ein Sozialist als „politischen Rauchfangkehrer" beschimpft hat. Die Polemik nimmt kein Ende. Als dieLuft raus ist, steht nicht mehr die Finanzierung im Mittelpunkt der Debatte sondern die Klarstellung der Opposition, dass sie nicht gewillt sei, Kinder nach sozialdemokratischer Denkart erziehen zu lassen. Die Karten liegen auf dem Tisch. Der Referent spricht ein Machtwort und der Antrag zur Bereitstellung der 234 Millionen Kronen wird mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Kommunisten gegen den Willen der Opposition beschlossen. 14 Die Not der Kinder, ihr Wohlbefindenund die Obsorge für die Schwächsten der Gesellschaft ist damit zur Nebensache geworden, das Engagement der Projektbetreiber in den Hintergrund gestellt. Das gegenseitige Misstrauen ist in die Gemeindestube zurückgekehrt und wird ab jetzt prolongiert. Sieben Jahre später wird vom Bau des neuen Kinderfreundeheimes auf der Ennsleite der Schriftzug prangen: ,,Kinder heute, Kämpfer morgen". Ursache und Wi rkung gehen Hand in Hand. Auchdie Natur meldet sich 1923 nachdrücklich und nicht das letzte Mal zu Wort: Ab dem heiligen Abend präsentiert sich der Winter in seiner vollen Pracht und gleichzeitigen Härte. In der Innenstadt wird ein halber Meter Schnee gemessen und ein ständiger Abfall der Temperatur beobachtet. Am Silvesterabend erreicht die Kältewelle ihren Höhepunkt mit minus 25 Grad Celsius. ,,Das Treibeis staute sich von der Schönau bis zum Ortskai und die Enns war mit einer dicken Eisdecke überzogen", berichtet der Chronist. 15 1 O StK. 1921 ,S.891. 11StK. 1921, S. 61 12 Neubauer Helga: österr. Waffenfabriksgesellschaft, S. 169 13 Brandl Manfred: Neue Geschichte v. Steyr, S. 39 14 StZg. 1923, Nr. 7,S.4 und Nr. 82, S. 5 15 StK. 1925, S.114 • 15
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2