MIGRATION UND MULTIKULTURALITÄT IN lnes Koppensteiner-Bernt STEYR Schon zur Mitte des 19 .Jahrhunderts erlebte die alte Eisenstadt durch den raschen Ausbau der „Österreichischen Waffenfabrik" einen Zuzug von Spezialisten der Metallverarbeitung aus Prag und Pilsen, der mit Skepsis und Argwohn betrachtet wurde, obwohl in Steyr 1890 nur 915 Tschechen (= 4,33% der Bevölkerung) lebten.' 1910 waren es lediglich 251, obwohl die Einwohnerzahl der Stadt in etwa konstant blieb.2 Man könnte daraus schließen, dass fast drei Viertel der in Steyr lebenden tschechischen Arbeiter seit 1891 die Stadt verließen und woanders Beschäftigung suchten. Es darf aber nicht der Assimilationsfaktor während 20 Jahren außer acht gelassen werden, die zweite Generation hatte sich bereits assimiliert . Ebenfalls großteils aus Südböhmen kamen jüdische Mitbürger seit 1851/52 nach Steyr, am 31.Oktober 1857 lebten bereits 50 Personen hier. 3 Die Juden integrierten sich sehr schnell in das gesellschaftliche Leben und wurden angesehene Bürger. Aber auch unter den zugezogenen Arbeitern befanden sich jüdische, die sehr bald führende Positionen in den Arbeitervereinen einnahmen. 1890 hatte Steyr 174 Personen, 1900 schon 188 Einwohner mit mosaischem Bekenntnis ." Eine eigene Kultusgemeinde war in Steyr mittlerweile eingerichtet worden. Erster Weltkrieg Die Zeit des Ersten Weltkriegs brachte wieder ein buntes Völkergemisch als Arbeiter nach Steyr in die Rüstungsproduktion der Steyr-Werke. Die Bevölkerungszahl der Stadt war bis 1914 ungefähr gleich geblieben (ca. 17.400 Personen5 ) und stieg nun während des Krieges auf 29 .840 Personen an, ohne dienstverpflichtete K1·iegsgefangene6 (1918: Beschäftigungshöchststand in den Steyr-Werken mit 14.000 65 Arbeitern). Diese Zugezogenen waren großteils männliche Einzelpersonen, die als Untennieter oder Bettgeher und in Baracken und Notunterkünften untergebracht wurden . Die ständig wachsende Rüstungsproduktion konnte aber nur mit Hilfe von vornehmlich russischen Kriegsgefangenen aufrechterhalten werden. Ab März 1 „Der Alpenbo te" vom 15.Februarl891 , S. 3. 2 Stockin ger, Arbeilerbewegung i1.1 Steyr, S. 30. 3 Steyrer Kalender 1915, S. 77. 4 Neu hauser/Ramsmaier, Vergessene Spuren , S. 63. 5 Retz l , Münjchho lz , S.18. 6 Steyrer Ka lende1· 1918 , S. 221.
66 Mei ster Sa vio und se in e Belegsc haft: vo rn ehmli ch itali eni sc he Ziege larb eiter im Zi ege lwe rk Franz Mai r, Ste yr 1929 1918 durften sich diese Menschen wieder frei bewegen und ihr Barackenlager in Ramingsteg verlassen. Sie waren für die Steyrer Bevölkerung eine „auffallende Erscheinung [ .. . ] die von den gebotenen Belustigungen reichlich Gebrauch machten ."' Angesicht s der katastrophalen Versorgungslage traten am 13. November 1918 im Gemeinderat ausländerfeindliche Tendenzen zu Tage. Allen Ernstes forderten die Vertreter der b iirgerlichen Parteien, ,,einen Kehraus zu machen, d.h. alle fremdländischen Gewerbetreibenden aus der Stadt zu entfernen. " 8 Dies klang allerdings eher danach , eine lästige Konkurrenz der Unternehmer los zu werden, als die Lebensmittelbeschaffung zu sichern. In der sozialdemokratischen Partei bekleideten inzwischen weiterhin Tschechen führende Positionen. Aber bis 1922 entließ man die tschechischen Arbeiter, wenn sie nicht für Österreich optiert hatten, aus den Steyr-Werken und schickte sie nach Hause . Die Jahre der Ersten Republik Bis 1923 sank die Bevölkerung auf 22 .111 Personen und in den Jahren 1924/25 wanderten fast 2.000 Menschen aus Steyr nach Übersee aus .9 Am 22 . März 1934, dem Tag der letzten Volkszählung der Ersten Republik , zählte Steyr nur mehr 20 .458 Personen, obwohl dur ch Eingemeindung von Gleink und einem Teil der Neuschönau ca . 600 Personen zu Steyr-Stadt hinzu gekommen waren. '0 Zugewan7 S1cyre1· Amtsb la tt 199215 , S . 27. 8 lladmose r, Der lange \Vcg , S. 82. 9 RcLz l , Miinichho lz, S. 23. 10 Vo lkszä hlung 1991 , Sta ti stisches Zentt·a lamt (onl ine) .
derte Arbeiter spielten aber auch während der zwanziger und dreißiger Jahre in der Steyrer Arbeiterbewegung eine Rolle . Büchsenmacher aus Ferlach kamen als Gewehrspezialisten aus der „Kärntner Eisen- und Stahlwerksgesellschaft" in die Steyr-Werke. u Der Zuzug von 400 Beschäftigten der Daimler-Werke aus Wiener Neustadt in einer Zeit der größten Krise und Dauerarbeitslosigkeit im Frühsommer 1934 belastete das Klima in den Steyr-Werken, sie wurden als „Daimler" ziemlich angefeindet. 12 Nationalsozialistische Herrschaft in Steyr Die Vernichtung der kleinen jüdischen Gemeinde: 13 Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938 war das Ende der kleinen, aber regen jüdischen Gemeinde in Steyr besiegelt. Einige flohen zu Verwandten nach Böhmen, andere zogen nach Wien, um in der Großstadt anonym zu bleil)en und von dort leichter ausreisen zu können. Auch die Quäker verhalfen jüdischen Kindern nach England zu emigrieren. 1941 gab es in Steyr nur mehr zwölf Juden und Jüdinnen sowie nach der rassistischen NS-Diktion 27 „Mischlinge 1. Grades" (sog. ,,Hallijuden"). Am 31. Mai 1944 lebten in Steyr keine Juden mehr. Die Rüstungsstadt Steyr 1938 - 1945 Durch den Zuzug reichsdeutscher Behörden, Ausbau der Rüstungsproduktion und Eingemeindungen wuchs die Einwohnerzahl auf 32.000 an. 14 Neue Arbeitskräfte mussßten aus der näheren und ferneren Umgebung geholt werden. Schließlich stieg die Zahl der Belegschaft der Steyr-Werke auf das Dreifache der Vorkriegszeit. Da von den seit 1938 etwa 14.000 Zugezogenen Münichholz 11.000 aufnahm, die übrigen Stadtteile nur zirka 3.000,15 soll die Periode der Zuwanderungen in der Nationalsozialistischen Ära in Steyr anhand von Münichholz gezeigt werden. Der neue Stadtteil Münichholz: 16 „Es war wie beim Zusammenfluss von verschiedenfarbigen Gewässern, man merkt die Farbstreifen noch lange." i; Für den enormen Zustrom an Arbeitskräften schuf die NS -Stadtverwaltung einen neuen Stadtteil mit angestrebten 10.000 Wohnungen in der Nähe des geplanten Wälzlagerwerkes Münichholz. Welche Menschen bezo- 67 gen diese neu geschaffenen Wohnungen während des Krieges? Menschen, die teils freiwillig, teils durch die widrigen Umstände dieser Zeit (Arbeitslosigkeit, Umsiedlung) nach Steyr gekommen waren. Münichholz war also von Anfang an ein buntes Gemisch verschiedener Volksgruppen . Die größte Gruppe bildeten „Alt11 Stockinger, Arbeiterbewegung i.n Steyr, S. 31. 12 Interview mit Frau Doppler am 17 .Juli 2001. 13 Neu hau ser/Ramsmai er , Ve,·gessene Sp uren, S.118 und 2821". 14, Rctz l , Münichholz, S. 24. 15 Steyre r Zeitung vom 30.März 1950 , S. 2. 16 Hetz! , Münichholz , S. 37 und 6lff. 17 Ch.-onik der Pfarre Chl"istkön ig in Mü.Luchholz (seit 1941) , S. 36 .
68 Steyrer" Arbeiter aus den Baracken auf der Ennsleite und in Ramingsteg . Andere kamen aus den verschiedenen Teilen der „Ostmark" und integrierten sich bald . Privilegiert waren die Reichsdeutschen und einige sudetendeutsche Flüchtlinge von 1938 durch ihre berufliche Besset·stellung und ihre „Angestelltenwohnungen". Auch viele Südtiroler wurden in Münichholz angesiedelt . Eine weitere Gruppe bildeten die hierher umgesiedelten 300 Bukowina-deutschen Familien. Daneben lebt noch heute die „einheimische Gruppe" des „Hammergrundes", meist Fabril<sarbeiter und Eisenbahner. Welche Menschen wurden zwangsweise nach Münichholz geschafft? ,,Fremdarbeiter" und Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten [Griechen, Spanier, Italiener, Russen , Polen, Dänen, Franzosen, Tschechen mit Familien] sowie ,,Fremdarbeiterinnen" und Zwangsarbeiterinnen [Französinnen, Ostarbeiterinnen] , alliierte Kriegsgefangene [Russen, Franzosen, Bel6r:ier, Italiener und slowakische Partisanen] und Häftlinge des ältesten Außenlagers von Mauthausen, des am 14 . März 1942 errichteten KZ-Lagers Steyr-Münichholz, wurden hier zu Sklavenarbeit gezwungen. [Höchststand am 25.April 1945 mit 3.090 Häftlingen] Sie wurden, so weit das möglich war, vor der Zivilbevölkerung „versteckt". Im „Stadtverwaltungslager" rechts der Haager Straße waren für kurze Zeit Juden untergebracht. Die Zahlen dieser bedauernswerten Menschen lassen sich nicht mehr feststellen, sie schufteten unter unmenschlichen Bedingungen für ein menschenverachtendes Regime. Keine/r von ihnen ist in Steyr geblieben - in ihrer Erinnerung ist Steyr „eine finstere, schmutzige Stadt" . '" Flüchtlinge, Vertriebene und Displaced Persons in Steyr Das Bevölkerungsgemisch in der Eisenstadt wurde im November 1944 noch bunter, als die Siebenbürger Sachsen und Landler, sowie die Donauschwaben aus dem Banat und der Batschka in langen Trecks den Gau Oberdonau erreichten . Die Steyrer staunten nicht schlecht, als eines Tages auf der Promenade und im Schlosspark Fuhrwerk an Fuhrwerk gereiht waren. Ihnen blieben die Siebenbürger und Banater nur als durchziehende Wagenkolonne in Erinnerung und später prägten die meist schwarz gekleideten Frauen 1nit den für sie typisch gebundenen Kopftüchern jahrzehntelang das Bild des Wochenmarktes am Stadtplatz . Kaum waren diese ersten „Kriegsflüchtlinge" untergebracht, trafen am 18. Februar 1945 zirka 1.000 Schlesier in Steyr ein. Für sie mussten bereits Schulen zur Unterbringung adaptiert werden. Die Steyrer verhielten sich ihnen gegenüber eher distanziert. Ende Februar waren im Landkreis Steyr bereits 2.646 „Deutsche aus feindbedrohten Gebieten" untergebracht. '9 Am 11. März folgten wieder schlesische Flüchtlinge, die auch bei Bauern der Umgebung einquartiert wurden . Die zwischen den Ennsterrassen eingezwängte Stadt war nun mit Menschen überfüllt, die nicht freiwillig hierher gekommen waren. Die einen mussten noch unter lebensbedrohenden Bedingungen für den „Endsieg" Sklavenarbeit leisten, die anderen hatten schon das Ende des Großdeutschen Reiches am eigenen Leib verspürt. 18 Bri ef eines ehema li gen RAD-Mädchens ( im Privatbes it z). 19 Lan drat in Stey r ] .Mä r z 1945 a n d ie Gau leitu ng Oberdona u .
Die Synagoge von Steyr (1894-1938) Friedri ch Uprimny (19 21- 1992 ) war der let zte vor 1938 geborene Einwohner jüdischer Konfession in Steyr. Die Fam il ie Upr imny ruht auf dem jüdischen Friedhof in Stey r.
70 Da erreichte am 5. Mai 1945 die 71. US-lnfantriedivision-Wyman die Stadt und Unmengen entwurzelter Leute irrten durch die Straßen: ehemalige KZ-Häftlinge und „Fremdarbeiter" versuchten zum großen Teil in ihre Heimatländer zurückzukehren, vorerst vergeblich. Wie viele Menschen sich damals in Steyr zusammendrängten, kann nur geschätz t werden . Bürgermeister Prokesch spricht in der 1. Gemeinderatssitzung davon, dass,,[ .. . ] nahezu 70.000 Menschen in dieser Stadt zur Zwangsarbeit verurteilt waren [ .. .]". 20 Insgesamt blieben 14.000 neu Zugezogene oder wie immer nach Steyr gelangte Personen für immer in Steyr, fü1· sie musste Wohnraum geschaffen werden." Inzwischen hatte auch die 3. Ukrainische Sowjetarmee am 8. Mai die Enns erreicht und seit 9. Mai war Steyr für fast drei Mona te eine geteilte Stadt. In dieser verworrenen Situation traf der nächste Flüchtlingsstrom ein, die Sudetendeutschen, die seit Mai über die Grenze getrieben wurden oder flohen. Sie wurden gemeinsam mit Angehörigen fremder Nationen im notdürftig eingerichteten Reithoffer-Lager und am Gelände der Artilleriekaserne untergebracht. Ihre Versor·gung mit dem Nötigsten stellte die Stadtverwaltung vor schier unlösbare Probleme, die nur mit Hilfe der US-Army gelöst werden konnten. Die ansässigen Steyrer nahmen von diesem Völkergemisch nicht viel Notiz , sie waren m.it ihren eigenen existentiellen Problemen beschäftigt. Aber die beiden Stadtverwaltungen versuchten schon im Sommer di e „Nicht-Ortsansässigen" abzuschieben. Rigoros ging die sowj etische Besatzungsmacht in Münichholz vor: Sie „repatriierte" alle Ausländer, was für Menschen, clie in den sowjetischen Machtbereich „zurückgeführt" wurden, oft ein Verschwinden bedeutete, wie für die 300 seit März 1941 in Münichholz angesiedelten Bukowina-deutschen-Familien, aber auch für Zwangsarbeiter aus der UdSSR oder russische Kriegsgefangene. 22 Die „westliche" Stadtverwaltung, die seit 30. Juli 1945 wieder für ganz Steyr zuständig war, bemühte sich in erster Linie, clie Reichsdeutschen und die schlesischen Flüchtlinge zurückzubringen Aber im Juni 1946 hielten sich iu Steyr noch 558 Reichsdeutsche und 8040 sonstige Ausländer auf. 23 Die sogenannten Displaced Pe1·sons (DPs) - ehemalige Zwangsarbeiter, Juden und andere durch das NS-Regime verschleppte Personen - sollten, wenn sie wollten, mit Hilfe amerikanischer Organisationen repatriiert werden oder man ermöglichte ihnen , insbesondere jüdischen Überlebenden, die Auswanderung in die USA oder nach Israel. In dieser schwierigen Situation kam Österreich das Potsdamer Abkommen gelegen und auch die Steyrer Behörden versuchten so viele Volksdeutsche wie möglich nach Deutschland zu transportieren. Auf wenig Verständnis stieß bei der Steyrer Bevölkerung die privilegierte Versorgung der jüdischen DPs, die nicht zu arbeiten brauchten und die durch die jüdisch-amerikanische Hilfsorganisation „Joint" [American J ewish Distribution Commitee] 1nit Lebensmitteln iu einem großen Ausmaß versorgt wurden. Bis 1950/51 handelte es sich um Durchgangslager 20 Protokoll der Konstitu.iercnden Gcmcinrl en1 tss itzung am 14. September 1945 , S. 3. 2 1. Steinbrecher, Steyr nach dem Kri eg , S. 7. 22 Chronik der Pfarre Chri stköni g in Mii ni chho lz , S. 36. 23 Stcyrcr Zeitung vom 16. Juni 1948 , S. 3.
für Juden, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Osteuropa geflohen waren. Die Steyrer Verwaltung hatte nun unter dem Druck der Gewerbetreibenden und der neu eröffneten und konzipierten Steyr-Werke erkannt, dass nicht alle Flüchtlinge nur eine Belastung darstellten, sondern wertvolle Arbeitskräfte für den Wiederaufbau, aber auch dringend benötigte landwirtschaftliche Kräfte. Besonders die Gruppe der Sudetendeutschen , die aus dem städtischen Bereich kam, hatte gewerbliche und handwerkliche Erfahrung und setzten ihr Know-how mit unternehmerischem Risiko gleich wieder ein. Genannt seien nur die Graslitzer Blechblasinstrumentenbauer im Reithoffer-Lager, die Gardinen- und Spitzenerzeugungen Pleier und Nödl & Co, sowie die Gablonzer Bijouteriewaren- und Glaserzeuger. 24 Am Stichtag 10. Oktober 1949 waren von 36.587 Einwohnern Steyrs 2.808 (= 7 ,4 % ) Ausländer, Volksdeutsche und Staatenlose bereits in Wohnungen untergebracht, fast 1.500 Menschen lebten noch in Lagern.25 Mit dem Aufbau der Friedensproduktion in den Steyr-Werken fanden auch viele Flüchtlinge Arbei t und ihr Integrationsprozess begann. ,,Im Werk zu arbeiten" bedeutete „dazu gehören, einer der unsrigen zu sein" . Sie konnten hier Fuß fassen, die meisten waren erfolgreich, Integration und sozialer Aufstieg waren spätestens in der zweiten Generation geschafft. Noch während des Integrationsprozesses der 1945 Vertriebenen wurde Österreich im November 1956 von einer neuen Flüchtlingswelle aus Ungarn überrascht. Der größte Teil aber verließ Österreich nach einigen Wochen in Richtung USA. Auch in Steyr reaktivierte man die Artilleriekaserne als Durchgangslage1· bis zum Frühjahr 1957. In der Stadt selbst blieben sehr wenige Ungarn, die meisten Flüchtlinge ungarischer Herkunft kamen über Umwege nach Steyr, weil sich ihnen hier ein Arbeitsplatz bot. Die Zuwandernng der Gastarbeiter Als wirklich bunt und multikulturell konnte man die Zusammensetzung der Bewohner von Steyr also nicht bezeichnen. Umso mehr fielen dann die angeworbenen Gastarbeiter auf. In den Steyr-Werken arbeiteten nur Jugoslawen, die wenigen Türken waren meist im Baugewerbe beschäftigt. Sie traten in Gruppen 71 auf, wohnten entweder in firmeneigenen Quartieren, Baracken und später auch eigens errichteten Häusern, oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in desolaten privaten Massenquartieren zu horrenden Preisen. Niemand machte sich die Mühe, diese Menschen in Steyr heimisch werden zu lassen. Die Wirtschaft hatte auch durch das sogenannte „Rotationsprinzip" dementsprechend vorgesorgt : Ein halbes Jahr hier arbeiten und dann zurück ins Herkunftsland und neue Arbeitskräfte holen. 24, Stcy rer Kalender 1950, S. 251 , 284 und 303 . 25 Steyrer Zeillmg vom 23.2.1950. S. 5.
72 Türkische Gastarbeiter kamen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nach Steyr.
Bald aber zogen die Familien nach und das Bild in den Stadtteilen Wehrgraben, Steyrdorf und Ennsdorf wurde bunter. Lebten 1971 nur 12 türkische Staatsangehörige in Steyr, waren es bei der Volkszählung 1981 bereits 141 Personen. Mit dem Auslaufen der offiziellen Gastarbeiterbeschäftigung 1974 kehrte ein Teil in ihre Heimat zurück, aber viele blieben. In den Jahren 1971-1981 zogen 104 Personen zu, sodass 692 Jugoslawen in Steyr lebten.26 Mit der einsetzenden Rezession in Steyr in den 80-er Jahren suchten sie in anderen Branchen Fuß zu fassen. 1984 waren in Steyr 984 Gastarbeiter beschäftigt, davon 390 aus Jugoslawien .27 Um einander zu unterstützen wurden die ersten serbokroatischen und türkischen Vereine gegründet, aber die meisten Arbeiter wollten nicht für immer in Österreich bleiben, sie wollten dorthin zurückkehren, wohin sie sich noch immer zugehörig fühlten. Ihre Vorstellungen von einer Rückkehr wurden mit dem Zerfall Jugoslawiens und den damit verbundenen Kampfhandlungen zerstört - der Bürgerkrieg in Jugoslawien machte für viele die Rückkehr in ihre Städte und Dörfer unmöglich. Für kroatische, bosnische und serbische Flüchtlinge erwies sich das ethnische Netz - Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn, die in Steyr geblieben waren - als erste Anlaufstelle. In Steyrdorf und im Wehrgraben waren die Häuser überfüllt, was bei der ortsansässigen Bevölkerung, besonders in Steyrdorf, Unmut hervorrief. Inzwischen bewohnten die ehemaligen Gastarbeiter als österreichische Staatsbürger auch schon Wohnungen auf der Ennsleite oder in Münichholz. In all diesen Stadtteilen stieg der Ausländeranteil rasch an. Nach dem Ende des Krieges wollte man in ganz Europa die Flüchtlinge zurückschicken, aber in Steyr nahmen nur wenige, eher ältere Menschen, das Angebot einer Rückkehrentschädigung an. Die meisten konnten, wenn auch unter schwierigen Bedingungen und meist unter Aufgabe ihres erlernten Berufes, sich hier eine bescheidene Existenz aufbauen. 2001 lebten in Steyr 3.257 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die noch keine österreichische Staatsbürgerschaft besaßen, das sind 65,2 % aller in der Stadt lebenden Ausländer. In den letzten 10 Jahren stieg der Anteil der jugoslawischen Mitbürger um mehr als 137,7 % von 1.362 auf 3 .257 Personen,28 zum Teil durch Zuwanderung, teils aber auch durch Geburten. Insgesamt wohnen in Steyr laut Volkszählung 2001 4964 Ausländerlnnen, das sind 12,6 % der gesamten Stadtbevölkerung. Multikultm·alität in Steyr In Steyr leben heute über 50 Nationen friedlich mit-, meist jedoch nebeneinander. Zum multikulturellen Leben in Steyr gehören neben den beiden dominanten Gruppen aber auch kleinere Migrationsgruppen - ohne Deutsche - zusammen 699 Personen (= 14,1 % der Ausländer). Die Zahl der deutschen Staatsbürger ist mit 215 Personen in etwa gleich geblieben und macht heute 4,3 % der Fremden aus. 29 26 Vo lkszäh.lun g 1981 , Statislisches Zen tralamt 27 Amtsb latt der Stadt Steyr 1985, S .16. 28 Statistik Au stria , Volkszählung 2001 29 Amtsblatt d er Stad t Steyr 2002/2 , S.18ff. 73
I< ll 0 IH II II l'O I HI 1 Multikulturalität in Ste r M .. Supermarkt und ~in( Marktleben, turkischer igrantenverein)
Die Rate der Einbürgerungen stieg in den letzten Jahren stark an, 1995-2001 von 79 Personen auf 285 Menschen (2000 waren es 222), meist aus Bosnien, Jugoslawien und der Türkei . Aber auch durch Geburten stieg der Ausländeranteil in der Stadt, 16,26 % aller 1995 in Steyr Geborenen haben zumindest einen ausländischen Elternteil.3° In den letzten Jahren erregte der muslimische Bevölkerungsanteil durch die traditionelle Kleidung der Frauen, besonders im Sommer, manchmal Aufsehen. Durch Familienzusammenführung hat sich der Anteil der türkischen Bevölkerung in Steyr seit 1991 mehr als verdoppelt von 362 auf 813 Menschen (= 16,4 % aller Ausländer in Steyr) und die Muslime unterhalten zwei Bethäuser. 14,7 % der Bevölkerung Steyr haben bei der Volkszählung 2001 eine nicht-deutsche Umgangssprache angegeben (vor allem serbisch, kroatisch oder türkisch) ."' Ganz reibungslos verlief das Zusammenleben der verschiedenen Nationen in Steyr aber nicht, gerade in Steyrdorf prallten die Interessen von Geschäftsleuten, Hauseigentümern und Migranten aufeinander und man gab gern den Zuwanderern die alleinige Schuld am Niedergang dieses Stadtteils . Es kostete den Verantwortlichen der Stadtverwaltung viel Mühe und Geduld, die Gemüter der „eingesessenen" Steyrdorfer Bürger zu beruhigen. Zu Konflikten führte auch die 10%-IGausel der GWG [Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft der Stadt Steyr ]. Als in den Wohnsilos im Stadtteil Resthof Wohnungen leer standen, vergab die GWG 10% davon an Ausländer, wogegen ein Teil der Resthofbewohner eine Unterschriftenaktion einleiteten. Auch hier trat mit der Aufklärungsarbeit privater Schlichtungsvereine Beruhigung ein. Inzwischen ist an der Oberfläche Ruhe eingekehrt. Viele aufgeschlossene Steyrer b emühen sich in Privatinitiativen wie „Paraplü" und Caritas ehrenamtlich um Integration, b esonders der muslimischen Frauen, indem sie Deutschkurse anbieten . Denn bei ihnen liegt der Schlüssel zum schulischen Erfolg der Kinder, der wichtig ist für ihr berufliches Fortkommen , das den Grundstein jeder Integration darstellt. Diese Mitarbeiter streben Integration der Zugewanderten in die Gesellschaft der Kleinstadt an, nicht Assimilation, wie sie vor 100 Jahren von den tschechischen Arbeitern der Waffenfabrik erwartet wurde. Die Volkszählung 2001 ergab , dass in Steyr ein Bevölkerungsrückgang nur durch den Zuzug und den Geburtenanteil ausländischer Mitbürger wettgemacht werden konnte. '12 Es gilt die kulturelle Vielfalt, die nun am Ende des 20.Jahrhunderts in die Provinzstad t in kleinem Maße eingezogen ist, zu pflegen, und die Aussichten dafür scheinen 75 günstig, denn die bislang erfolgte Zuwanderung ist auch Ausdruck wirtschaftlicher und demographischer Notwendigkeiten. 30 Amtsb latt de,· Stadt Steyr 1996/3 , S.lüf. 31 Statist.ik Austria, Vo lkszä hl ung 2001 (on li ne) . 32 Ebenda.
76 Literatur- und Quellenangaben (Au swa hl): Manfred Brandl, Neue Geschichte von Steyr. Vom Biedermeier bis Heute, Steyr 1980 . Chronik der Pfarre zu Christus, dem König, Steyr-Münichholz seit 1941. Illu strierter Steyrer Geschäfts- & Unterhaltungskalender mit selbständigem Adressbuch von Steyr für Stadt- und Landleute für das Jahr", Jahrgänge 1915, 1918 und 1950. Wa ltraud Neuhau ser-Pfeiffer/ Karl Ramsma ier, Vergessene Spuren. Geschichte der Juden in Steyr, Linz 1998. Wa lter Radmoser, Der lange Weg. 100 Jahre Sozialdemokratie in Steyr, Steyr o. J. Helmut Retz l, Münichho lz - ein Stadttei l im Wande l der Zeit (= Veröffentlichungen de s Kulturamtes der Stadt Steyr Heft 37, Juni 1986, S. 1-191). Leopold Steinbrecher, Steyr nach dem Kr ieg. In: Die Stimme Österreichs. Zeitschrift für Österreicher und Freunde im Aus land. Sonderheft, 6.Jahrgang, 1952, Heft 50. Josef Stock inger, Die Entwick lung der Arbeiterbewegung in der Stadt Steyr und ihrer Umgebung von 1918 bis 1934, phil. Di ss., Salzburg 1986. Statistik Austria, Ergebni sse der Volkszählungen (online).
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