102. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1984/85

Lehrerbeiträge Gedanken zur Schulmathematik im Computerzeitalter ZUR SITUATION DER SCHULMATHEMATIK HEUTE Vergleicht man die schriftlichen Maturabeispiele der 60iger Jahre mit denen von heute, kann man feststellen: früher waren Vermessungsaufgaben häufig , heute sind solche Beispiele kaum üblich. Der Hauptgrund dafür ist die allgemeine Verfügbarkeit von kostengünsti- gen Taschenrechnern . Rechner, mit denen man an der AHS das Auslangen fin- det, kosten heute um die 400 Schilling. Zu Beginn meines Studiums, 1972, gab es auch schon solche Geräte. Sie waren gerade auf den Markt gekommen und kosteten etwa 12.000 Schilling. Früher war die rechner ische Durchführung von Vermessungsaufgaben mühsam und zeitaufwendig. Die Werte der Winkelfunktionen mußten in Tabel- len gesucht werden, das Multiplizieren und Dividieren von Dezimalzahlen mit vielen Kommastellen war selbst mit Logarithmentafeln eine langwierige Ange- legenheit. Heute, mit dem Taschenrechner, ist das alles eine „ Arbeit" von Minuten. Vermessungsaufgaben sind für die schr ift liche Matura zu kurz geworden . Stellt man weiters die Frage, welcher Maturant heute noch mit Papier und Bleistift die Quadratwurzel aus einer Zahl zieht, so sieht man auch hier: bereits der nicht programmierbare Taschenrechner hat dem Menschenvieleroutine- mäßige Fertigkeiten abgenommen. Noch mehr trifft das für programmierbare Computer zu . Es gibt nämlich schon Computerprogramme, die das algebraische Rechnen beherrschen, also mit Buchstaben rechnen. Diese Programme können auch formal, das heißt nicht bloß näherungsweise, differenzieren und integrieren . Man kann erwarten, daß der derzeitige Preis von über 12.000 Schilling für derartige Programme in den nächsten Jahren ebenfalls dramatisch fällt. Dann haben auch Schüler Zugang zu diesen Möglichkeiten. MEINE FOLGERUNGEN AUS DIESER SITUATION Die schnelle und sichere Beherrschung von Rechenroutinen verliert der- zeit bereits an Wichtigkeit, und sie wird es noch weiterhin tun. Statt dessen wird das Verständnis der Begriffe sowie das Wissen um die Voraussetzungen und um die Anwendbarkeit der Rechenschemata an Bedeutung gewinnen. Dazu ein Beispiel aus dem Teilgebiet der Differentialrechnung: Eine Funk- tion differenzieren zu können wird weniger wichtig sein , als zu verstehen, was der Differentialquotient in verschiedenen Zusammenhängen bedeutet. Schon heute führt man als wichtigen Grund für das Lernen von Mathematik an, daß man durch Mathematik „ Denken lerne". Ich meine, daß das derzeit noch überwiegende Einüben von Rechenschemata wenig beiträgt zum „Denken ler- nen". Das Ziel selbst aber halte ich jetzt , und auch in der Zukunft , für ungemein wichtig. Dabei möche ich „ Denken" in einem sehr weiten Sinn verstanden wis- sen, der jedenfalls die folgenden Aspekte einschließt: logisch schließen, kom- 9

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