funktionalen Denkens eingegangen. Wie schon erwähnt, war KLEIN Geometriker. Seine hervorragendsten Leistungen erbrachte er auf dem Gebiet derprojektiven Geometrie (Projektive Modelle der nichteuklidischen Geometrien) und der Abbildungsgeometrie (Kongruente, äquiforme, affine, lineare Transformationen). In seinem berühmten "Erlanger Programm" (1872) wird die Invarianz geometrischer Eigenschaften gegenüber verschiedenen Abbildungen sogar zum ordnenden Prinzip der Geometrie erhoben. Diese Betrachtungsweise charakterisiert er wie folgt: "Was ist das Wesen dieser ganzen Disziplin? Daß wir die einzelne Figur nicht als starr gegegeben ansehen, sondern als transformierbar, als veränderlich, daß wir unseren Gebilden sozusagen organisches Leben erteilen." KLEINs Vorliebe für lebendig-produktive Denkprozesse und seine gegenstandsbezogene Arbeitsweise machen es verständlich, daß er der blutleeren Axiomatik HILBERTs und seiner Denkschule skeptisch gegenüberstand. Allerdings bleiben seine erkenntnistheoretischen Ansichten relativ undeutlich, den gedankenlosen Formalismus lehnt er jedoch scharf ab und hält ihn sogar für den "Tod aller Wissenschaft". So fand auch HILBERTs Mathematikverständnis in KLEINs Reformprogramm keine Berücksichtigung. In diese Richtung ist erst die Modernisierungsbewegung nach dem zweiten Weltkrieg vorgestoßen. Aber auch die Mehrzahl von KLEINs Intentionen konnte zufolge der desolaten politischen Lage Europas ab 1914 in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht realisiert werden. Neben einer gewissen Berücksichtigung pädagogisch-psychologischer Momente beim Mathematikunterricht ist eigentlich nur die Aufnahme der Infinitesimalrechnung (nach heftigen Diskussionen) in die Lehrpläne der höheren Schulen als konkretes Ergebnis der KLEINsehen Reform zu nennen. Das Grundanliegen KLEINs, nämlich das starre EUKLIDsehe Denken durch die Schulung an der Transformations- und Invariantentheorie zu überwinden, blieb auf der Strecke, was als Beweis dafür gelten kann, daß ein wirklicher und organisch durchgeführter Neuaufbau· der Schulmathematik, wie er der KLEINsehen Reformbewegung vorschwebte, nicht stattgefunden hat. Gleichwohl, oder vielleicht gerade deshalb, ist der bisher geschilderte Sachverhalt wert, festgehalten zu werden, und zwar nicht nur aus Liebe zur Geometrie Felix KLEINs, sondern auch 25
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