93. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr

gegeben sind. So hat die Mathematik durch HILBERT ihr scheinbar wesentlichstes Merkmal verloren. BOURBAKI, von dem noch zu sprechen sein wird, sagt dazu: "Die Mathematiker sind immer überzeugt gewesen, daß sie 'Wahrheiten' oder 'wahre Aussagen' beweisen; eine solche Überzeugung kann nur von gefühlsmäßiger oder metaphysischer Ordnung sein, und es gibt auf dem Gebiet der Mathematik nichts, woraus sich das rechtfertigen ließe,.,," Mathematik als axiomatische Strukturwissenschaft Es ist zu verstehen, wenn durch das zuletzt Geschilderte der Eindruck entstanden ist, die Mathematik habe sich mit HILBERT auf Abwege begeben und sei ein nutzloses Gedankenspiel geworden. Dazu muß gesagt werden, daß es reiner Mathematik in keinem Stadium ihrer Entwicklung auf den Nutzen ankam; dieser stellte sich oft erst nachträglich heraus und blieb manchmal den Mathematikern, welche die Theorie entwickelt hatten, vollständig unbekannt. Ähnliches ist auc_h hier der Fall. Gerade durch HILBERTs grundlagentheoretische Arbeiten hat die Mathematik in der Anwendbarkeit eine Ausweitung_erfahren, die vorher undenkbar war, und sie hat dabei nichts von ihrem klassischen Bestand verloren. Ob HILBERTs Denk- und Arbeitsmethode allerdi�gs die für die Mathematik einzig "richtige" ist, bleibt - ganz im Sinne der modernen mathematischen Auffassungen - offen. Diese Frage ist zwar von erheblicher pädagogischer Bedeutung, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, in der wissenschaftlichen Mathematik spielt sie aber heute kaum eine Rolle. Hier hat sich HILBERTs Standpunkt voll und ganz durchgesetzt. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete BOURBAKI, der auch in der Diskussion um die Reform des Mathematikunterrichts immer wieder hervortritt und mit dem es folgende Bewandtnis hat: 1934 begann eine Gruppe junger Mathematiker, die ganze Wissenschaft in der von HILBERT für die Geometrie inaugurierten axiomatischen Form darzustellen, Basis der Darstellung wurden die formale mathematische Logik und die Mengenlehre. Von diesem Kreis wurde die Mathematik zunächst nach drei "Mutterstrukturen" geordnet, und zwar nach Ordnungsstrukturen (z.B. Größenvergleich), 20

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