93. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr

Dennoch iet der Schritt von der Manipulation der geometrischen Begriffe bie zur vollständigen Preisgabe eines konkreten Inhalts, wie ihn David HILBERT vollzieht, nicht mehr allzu groß, Er ist allerdings nur verständlich im Zusammenhang mit der Neukonzeption anderer mathematischer Bereiche, wie der Algebra durch GALOIS ( 1 81 1 -1 832 ) , und_ der Schöpfung der Mengenlehre durch .Georg CANTOR (1845-1918), Trotzdem beruft eich die heutige Mathematik vor allem auf HILBERT; seine Axiomatik, sein Formalismus, sein Strukturdenken sind ihre Fundamente, Sein 1899 erschienenes Buch "Grundlagen der Geometrie" verdrängte endgültig EUKLIDs "Elemente" vom Spitzenplatz der geometrischen Bestsellerliste, In der Einleitung heißt ee: "Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Ding�n: die Dinge des ersten Systems nennen wir Punkte,,,, die Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden,,,, die Dinge dea dritten Systems nennen wir Ebenen,,, Wir denken die Punkte, Geraden und Ebenen in gewissen gegenseitigen Beziehungen und bezeichnen diese Beziehungen durch Worte wie 'liegen', 'zwischen', 'parallel', 'kongruent', 'stetig'; die genaue und für mathematische Zwecke vollständige Beschreibung dieser Beziehungen erfolgt durch die Axiome der Geometrie," Wesentlich ist, daß HILBERT nirgendwo sagt, was "Punkte", "Geraden", "Ebenen" sind und auch die Natur der Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen sollen, nicht angegeben wird, Es wird nur gefordert, daß die Beziehungen zwischen den Dingen die in den Axiomen geforderten Eigenschaften haben sollen, Das für die Begründung der euklidischen Geometrie (als einer von vielen möglichen Geometrien) notwendige Parallelaxiom hat bei HILBERT folgenden Wortlaut: "Es sei a eine beliebige Gerade und A ein Punkt außerhalb von a: dann gibt es in der durch a und A bestimmten Ebene eine und nur eine Gerade, die durch A geht und a nicht schneidet," Auch das Wort Axiom selbst hat seinen Sinn völlig gewandelt. War es bis HILBERT eine evident wahre Aussage über (ideal isierte) Gegenstände unserer Erfahrung, so ist es nun eine mehr oder weniger willkürliche, aber jedenfalls zweckmäßige Festsetzung zur Begründung eines formalen Systeme� Dieses System wird wie bei EUKLID durch logisches Schließen aus den Axiomen aufgebaut, erhebt aber k e i n e n Wahrheitsanspruch mehr, Dies folgt unm-ittelbar daraus, daß die Axiome weder wahr noch falsch, sondern einfach vor19

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