93. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr

BVNDESREALQYMNASIVM STEYR 93. JAHRESBERICHT 1975/76 Direktor Dr. Richard Treml: Gregor Goldbacher und das Realgymnasium Steyr Seite 3 Mag. rer. nat. Dieter-Heinz Grillmayer: Die „neue" Mathematik Seite 13 Aus dem Leben der Schulgemeinschaft Seite 43 Herausgegebe11 vom Elternverein des BRG Steyr. Zusammengestellt von Prof. lnes Koppensteiner und Prof. Trautwein. Titelbild: Original-Abdruck eines Linolsdmittcs von Renate Steinwendtner, 3 B. Fotos der Maturanten von Prof. Hopf. Gedruckt in der Vereinsdruckerei Steyr.

Professor Gregor Goldbadier

DIREKTOR DR. RICHARD TREML Gregor Goldbacher und das Realgymnasium Steyr Für den 10. Oktober 1975 lud der Bürgermeister der Stadt Steyr, Franz Weiss, zu einem Festakt anläßlich der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Gregor Goldbacher in die Schloßkapelle ein. Damit begann eine Reihe von Veranstaltungen, die die Erinnerung an den bedeutenden Heimatforscher und Mundartdichter wieder wachrief und die junge Generation mit diesem Mann beka,intmachen sollte. Am gleichen Tag wurde im Bummerlhaus eine Gedächtnisausstellung eröffnet, die Goldbacher als Menschen von unwahrscheinlidter Vielfalt zeigte: Lehrer an der Realschule, Bergsteiger, Schneeschuhläufer, wie man damals noch sagte, Schwimmer, Sänger, Mundart- und Gelegenheitsdiditer, Verfasser von Festspielen, Lehrer und Erzieher, Historiograph. Neben Artikeln und Büchern von ihm und über ihn waren Bilder, Festschriften, Bierzeitungen, aber auch Fotos, Handkataloge und persönliche Erinnerungsstücke zu sehen, die den modernen Besucher staunen ließen, wie man in einer Zeit ohne Elektronik und schnelle Autos so viel Zeit haben konnte. Bürgermeister Weiss gab die Gründung eines Gregor-Goldbacher-Förderungs-Fonds bekannt, der alle fünf Jahre einzelnen oder mehreren Personen, Organisationen oder Unternehmen für die Förderung der Stadt Steyr auf kulturellem, wirtschaftlichem, sozialem oder historischem Gebiet zuerkannt werden solle. Der Förderpreis in Höhe von 50.000 Schilling soll erstmalig im Jahre 1980 anläßlidi der Tausendjahrfeier der Stadt Steyr vergeben werden. Am 11. Oktober versammelten sich die Spitzen des kulturellen Lebens, Vereine, ehemalige Schüler und Verwandte Goldbachers auf dem Friedhof am Tabor um sein Grab. Umrahmt von den Chören des Männergesangvereines „Sängerlust" und der Hauptschule Garsten sprachen Herbert Tagini für die „Sängerlust", Oberschulrat Alois Weinberger für das Ennstal, der Direktor des Bundesrealgymnasiums und Bürgermeister Franz Weiss. Im Anschluß daran wurde die von Professor Fritz Schatz/ gestaltete Gedenktafel am Gebäude des Bundesrealgymnasiums Michaelerplatz enthüllt, auf der unter einem Porträtrelief Goldbachers die Worte stehen: ,,Professor Gregor Goldbacher / Mundartdichter und Heimatpfleger / lehrte in diesem Hause Mathematik, Darstellende Geometrie, Stenographie und die Liebe zur Heimat/ Gewidmet von der Stadt Steyr 1975". Professor Carl Hans Watzinger hielt die Festrede für seinen ehemaligen Lehrer, von der besonders der Passus haften blieb, daß sich vielleicht einst eine Mehrheit von Goldbachers Zeitgenossen an diesem ehrwürdigen Gebäude eher eine Gedenktafel für den berühmten, in der 4. Klasse gescheiterten Schüler Adolf Hitler als für seinen allzustrengen Mathematiklehrer Goldbacher erwartet hätte, ,,aber", so beschloß er seine Ansprache, ,,der Geist hat gesiegt/" Dann übergab Bürgermeister Weiss die Gedenktafel in die Obhut des Direktors. 3

Die Reihe der Veranstaltungen schloß mit einem dem Mundartdichter Goldbacher gewidmeten Festabend am 12. Oktober, vom Kulturamt der Stadt Steyr und vom Stelzhamerbund veranstaltet, bei dem die Geschwister Goldbacher durch Rezitation ernster und heiterer Werke il1res Vaters bewiesen, daß die Familientradition noch lebendig ist. Gedenktafel am Gebäude des Bundesrealgymnasiums Durch alle diese Veranstaltungen wurde das Interesse weiter Kreise wieder auf Gregor Goldbacher gelenkt. Vielleicht wollen etliche der Schüler, die tausende Male während ihrer Studienzeit an diesem Denkmal vorbeigehen, mehr über ihn und sein Wirken an dieser Anstalt wissen. Die Jahresberichte aus fast vier Jahrzehnten haben viel darüber zu berichten, sind aber nur mehr wenigen greifbar. Vielleicht finden deshalb die folgenden Zeilen Interesse, die sich im wesentlichen mit der Festrede des Direktors am Grabe Goldbachers decken, aber um viele Züge erweitert sind, die geeignet sein können, ein buntes Bild jener lang vergangenen Jahre vor uns l1inzuzaubern mit einem Blick auf das Schulleben im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, das den Schülern von 11eute unbekannt ist wie Goldbacher. Am 10. Oktober 1875 wurde Gregor Goldbacher in Steyr geboren, studierte in der k. k. Realschule am Michaelerplatz und maturierte dort 1894. Es war die erste Matura seit fünf Jahren, weil wegen vorübergehender Einstellung der Oberstufe seit 1890 keine Reifeprüfung mehr durchgeführt worden war. Es hatten sogar sechs Professoren deswegen die Stadt verlassen 4

müssen. Die außerordentliche Entwiicklung der Steyrer Industrie hatte die Schülerz,ahl ,aber wiederum erhöht, und seit 1891/92 hatte ,es wieder eine vollständige Oberstufe (dma als 7 Klas, sen, au�bauend auf ,die 5klassige Volksschule) geg, eben. Er studierte von 1894 bis 1899 an der Technischen Hochschule und Universität Wien und kam am 10. September 1899 als Nachfolger des an die Technische Hochschule Wien berufenen Profossors Theodor Schmid an die Steyrer Schule. So trat Supplent Goldbacher seinen Dienst am 16. September an und wurde den Professoren Martin Watzger in Mathematik und Rudolf Glas in Geometrischem Zeichnen zugeteilt. Im Oktober des nächsten Jahres wurde er „wirklicher Realschullehrer" und auch mit dem Unterricht in Stenographie betraut, der damals wesentlich mehr Bedeutung hatte al, heute. In der Sitzung des k. k. Larndesschulrates vom 2. Oktober 1903 erhielt er den Professorentitel, 1905 wurde er Kustos der Lehrmittelsammlung für Geometrie. Vom 11. November 1921 :bis 9. Febmar 1922 leitete er interimistisch ,die Schule. Goldbacher als Lehrer Von dem geschickten und behutsamen Einstieg Goldbachers in dtie Pädagogik, lange vor dem „psychologischen Zeitalter", zeugt sein Gedicht „Da erstö Schultag", von dem zwei Strophen hier zitiert seien: Wagn ma's halt in Gottnam. Moan tua igs guat. Nutze. n will i an iadn, Wo's ös na tuat! Han glei dön ersten Tag Selm profitiert. Han guating Schaua tan In dös jung Gmüat. Wie anders war doch der Schulbetrkb ,damals als in unserer Zeit! Die Schule hatte sieben Klassen mit 165 Schülern. Einige Kostproben aus den Jahresberichten mögen etwas zum Zeitkolorit beitragen. Für die Scuh le hatte u. a. ,,der hohe OÖ. Landtag" gespendet, der „löbliche Gemeinderat" und die „löbliche Wa:ffenfabriksgesellschaft". Am 28. Mai 1902 unternahm Goldbacher einen Sängerausflug, über den in der blumigen Sprache der Wandervogelzeit im 32. Jahresbericht zu lesen ist: ,,Vom herrlichsten Wetter begünstigt, unternahmen die Gesangschüler des II. Curses mit ihrem Le h r e r und in Begleitung des Professors G o 1 db a c h e r am 28. Mai einen Ausflug nach Ernsthofen. Um 1 Uhr versammelten sie sich im Realschulhofe und wanderten über die Lauberleite und Staining zur überfuhr nach Ernsthofen. Bis dahin wurde einmal im Walde Rast gemacht und sowohl ,daselbst als auch während der überfuhr fleißig gesungen. In Lobmayers Gastgarten fanden die Sänger, von :dem Marsch ein wemg ermattet, die nöthige Abkühlung, und alsbald entwickelte sich ein reges Leben und Treiben. Knabenchöre, gemischte und Männercöh re wurden abwechselnd zum Vertrage g, ebr,acht, Jugendspiele wmden abgehalten, und auch ein Amateurphotograph fehlte nicht, um die lustige Schar zu Bilde zu bringen. Nur zu bald kam ,der Jugend der Ruf zum Abschied, und unter 5

heiterem Lied.erklang wand,erten die Sänger :z;ur Bahnstation, um mit dem um 8 Uhr abends in Steyr ankommeniden Zuge die Rückreise anzutreten. Während der Fahrt erklangen noch mehrere Liede, r, und hoch befriedigt und wünschend, baldigst wieder einen derartigen Sängerausflug unternehmen zu dürfen, zog ,die fröhliche Jugend der Heimat zu." An gleicher Stelle kann man lesen, daß wegen des milden Winters kein Schlittschuhlaufen möglich war, daß deswegen das Schneelaufen nur wenig geübt werden konnte und Goldbacher nur fünf Ausflüge nach Pesendorf und an die Damberghänge mache. n konnte. Mit Erlaubnis ihrer Eltern oder deren Stellvertreter betrieben 25 Schüler das Radfahren, ferner konnten die Schüler um 50 Heller in der Badgasse ein Wannenbad (mit Handtuch und Seife) nehmen. 1904 glückt dem jungen „wirklichen k. k. Realschullehrer für Mathematik und Darstellende Geometrie und Nebenlehrer für Stenographie" Gocldbacher zusammen mit dem Verein „Realschule" die Erhaltung der Type. Damit war es „gelungen, die einzige Realschule Oberöster11eichs .außerhalb der Land:eshauptstadt vor einer ungewissen Zukunft zu bewahren". (43. Jahresbericht, S. 17). Wegen seines verkürzten rechten Armes, ein Handikap, das ganz besonders seinen sportlichen Ehrgeiz steigerte, wurde Goldbacher im Weltkrieg nicht eingezogen, sondern gehörte zu den „daheimgebliebenen Lehrern, welche den Unterricht aufrecht erhielten". Aber mehr als das: er organisierte Kriegsfürsorge und Sammlungen, bra. chte in einer ,einzigen Rotkreuzwoche den beachtlichen Betrag von 1280 Kronen zustande un' d gewann 221 neue Mitglieder. Durch Herausgabe seiner Kriegsgedichte „Schulter ,an Schulter" und den Verkauf von über 70.000 Gedichtkarten, auf denen seine Gedichte in kunstvoller Schrift abgedruckt w,aren, konnten dem Roten Kreuz mehrere tausend Kronen zugewendd werden. 1916 führte .er sogar die Aufsicht beim militärischen Turnen der drei obersten Klassen mit drei Unteroffizieren. Schon damals w, ar er im Ausschuß der „bibliotheca paupemm", später Schülerlade genannt, einer Einrichtung, die Lehrbücher ankaufte und den Schülern gegen einen geringen Betrag oder gar kostenlos zur Verfügung stellte, ein sparsamer Vorläufer ,der heutigen Scuh lbuchaktion. Der S t e n o g r a p h i e kam damals in der Schule weit größere Bedeutung zu als heute, da allzuviele glauben, ,daß Sch reibmaschinen und Tonträger sie überflüssig machten, cin Irrtum, ,der sich spätestens auf ,der Universität als groß und nicht 'Wlieder gutzumachen herausstellt. Es handelte sich damals um die Gabelsbergersche Kurzschrift, die noch heute als die schnellste im deutschen Sprachmum gilt, nur schwerer •erlernbar ist als unsere heutige Form. Es wurde von der 4. bis zur 7. Klasse ein Anfänger- und Fortbildungskurs zu jce zwei Wochenstunden gehalten, um die Jahrhundertwende der einzige Freigegenstand neben Gesang ull!d Chemischem Labor. Goldbacher unterrichtete dieses Fach seit Herbst 1901; immer wieder lesen wir in den Jahresberichten von Wettschreiben un:d Preisverteilungen, erstmalig am 28. Juni 1903, zuletzt im Juni 1917; erst im letzten Kriegsjahr 1918 hatte man offenbar anderes zu fördern. Diese Wettkämpfe wurden manchmal sogar mit einer Ansprache des Direktors ,eingeleitet, selbst ein 6

Reichsratsabgeordneter war einmal dabei anwesend. 1903 beteiligten sich bis auf einen alle Schüler der 4. und ,. Klasse. Wir lesen da: ,,Die Schüler der IV. Klasse (Anfängerkurs) mußten ein in stenogra-phisch, er Korrespondenzschrift abgefaßtes Stück in Kurrentschrif.t übertr.agen und ein Thema in stenographische Korrespondenzschrift übersetzen, außerdem ihre Fertigkeit im Lesen stenographischer Korrespondenzschrift ,dartun. Die Schüler der V. Klasse (Fortbildungskurs) hatten einem fünf Minuten dauernden Diktate mit der Schnelligkeit von 90 Worten und hierauf einem Diktate von ,einer Minute in der Schnelligkeit von 100 Worten zu folgen, das Geschriebene jedesmal sofort wieder zu lesen und schließlich ihre Niederschrift in Kurrentschrift zu übertragen. Das Preisrichterkollegium hat nach dem Referate des mit der Leitung des Schreibens betrauten Realschullehrers Goldbacher 15' von den 23 Schülern ,der IV. Klasse und 10 von den 15' Schülern der V. Kllasse Preise, Diplome o>der Anerkennungen 2)Ugesprochen . . ." Solche Berichte kehren, oh wörtlich, wieder. Als Preise gab es Medaillen, Diplome, Klass· ikerausgaben, teilweise solch, e „in ·stenographischer Schrift". Der Erfolg des Unterrichts muß ,sehr nachhaltig gewesen sein, denn mein V.ater, den ich 1907 unter den Diplomempfängern entdeckte, hatte sein Leben lang sämtliche Notizen, Ta, gebücher und Protokolle, ja den Großteil seiner privaten Korrespondenz in Stenographie abgewickelt, übrigens auch ich selbst, der ich bei Goldbacher 1932-34 ,die deutsche Einheitskurzschrift, und zwar Verkehrs- und Eilschrift, samt 1den GrunJdzügen der Redeschrift gelernt und in den Fünfzigerjahren, als Not an Mann war, gelehrt hatte. So wirkte Goldbacher als strenger un!d gerechter, für heutig, e Vorstellungen sehr autoritärer Lehrer bis 1935'. Als „Gurs" war er allen Schülern bekannt, unter ,diesem Namen lernten ihn künftige Schüler schon durch ihre Väter kennen, in vielen Fällen - so in meinem - lehrte er Vater und Sohn. 1931 wurde er zum Studienrat ernannt (ider Titel entsprich t ,dem heutigen Oberstudien.rat) und 1935' mit einem Dekret des Landesschulrates mit Dank und Anerkennung und dem Ritterkreuz 1. Klass· e des österreichischen Verdienstordens in den dauernden Ruhestand versetzt. R,uhestand nur in der Schule, denn dadurch konnte er erst seine Tätigkeit auf anderen Gebieten erweitern, besonders beim Verein „Steyrer Heimatpflege". Goldbaclter als Wissenschafter Neben •seiner Lehrtätigkeit erwies sich Goldbacher als solider Wissenschafter. Schon im Jahresbericht 1902 veröffentlichte er einen 24 Seiten langen Artikel „Über den Einfluß Plückers auf die analytische Geometrie", eine Würdigung ,des Gelehrten (1801-68), :der sich •durch seine Studien über die analytische Geometrie der Ebene und des R,aumes Verdienste erworben hatte; er hatte abgekürzte Bezeichnungen in der analytischen Geometrie eingeführt, die sechs Plückerschen Formeln gefunden und die Diskussion von Kurven 3. und 4. Ord, inung eröffnet. Im Jahresbericht von 1916 veröffentlichte Go1dbacher die „Ergebnisse der Wetterbeobachtung, sstelle Steyr von 1896-1915'", eine umfassende stati7

stische Arbeit mit zahlreichen Tabellen. Er selbst war seit 1903 Wetterbeobachter und hatte einen Teil der Instrumente bei seinem Wohnhaus Bismarckstraß,e 12 (heute Bahnhofstraße), einen ,anderen im Schulhof aufgestellt. In jenen zwanzig Jahren hatte er einen Durchschnitt von jährlich 149 Re.genund 26 Schneetagen in Steyr errechnet, eine uns Heutigen gevaderu märchenhaft ,anmutende Zahl bei einem Maximum von 42 Schneetagen. Goldbaclter als Historiograph Im Jahresbericht 1913 veröffentlichte Goldhacher die „Entwicklungsgeschichte der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr. Anläßlich ihres ,ojährigen Bestandes", Dieser wertvolle Beitrag, der später von Prof. Dr. August Bloderer für die Fortsetzung der Schulgeschichte verwendet wurde, füllt nach einem Bild des Lehrkörpers, auf das Kammerphotograph Josef Futter 18 außerordentlich würdige Herren gebannt hat, und einem von Goldbacher verfaßten Festgruß 39 Seiten, wozu noch si,eben Bildtafdn kommen. Hier näher darauf einzugehen ist weder am Platze noch beabsichtigt, wenn auch manche Absätz.e eine erschreckende Aktualität aufweisen. Die Platzsorgen gehören oHenbar seit eh und je zu diesem Hause. 1873 verfaßte der Direktor e:ine „dringliche Eingabe", in welcher ,er betonte, daß [ . . . ] es an Kabinetten fehle, um ·die notwendigsten Lehrmittel für Geometrie, Zeichnen und Geogra, phie unterzubringen. Die Räume für Physik und Naturgeschichte s,eien ganz unzureichend und die Lehrmittel reichten nicht einmal für ,die Zwecke einer Unterrealschule aus, weshalb um Beseitigung dieser mißlichen Verhältnisse ersucht wurde". Hundert Jahre später ließe sich Gleiches melden. Dieses Schreiben führte zur Errichtung eines zweiten Geschosses auf dem hinteren Ho·fteil. 1912 wurde „zur Behebung des dringendsten Raummangels und zur Beseitigung mehrerer in gesundheitlicher Hinsicht rocht einwa111dfreier Klassenzimmer während -der Hauptferien 1!!] durch die Stadtgemeind,e Steyr auf den rückwärtigen Teil des Schulgebäudes ein drittes Stockwerk aufgesetzt" (das 1944 zerstört wmde). Wie kaum ander,s ZiU erwarten, werden auch die meteorologische Beobachtungsstelle und der Skilauf gebührend erwähnt, das Wandern und Herbergswesen. Abschließend versichert er, daß er mit diesen Zeilen „die Liebe aller, welche j•emals in diesen Räumen ihren Studien oblagen, zu ihrer Anstalt" fördern wollte. Die Zahl seiner geschichtlichen Artikel in Zeitungen, Zeitschriften, Kalendern, Sammelbänden (,,Steyr und der Weltkurort Bad Hall", Berlin-Friedenau 1928) ist Legion; auch hier wollte ich nur erwähnen, was auf das Realgymnasium Bezug hat. Sport und Wandern Unserer Generation, in der das Schifahren Volkssport und mehr als das gewo11den ist, wie die heurige Olympiabegeisterung und -hysterie bewiesen hat, scheinen die Anfänge des „Schneeschuhlaufens" zu Beginn des Jahrhunderts recht seltsam. 1903 wird berichtet, daß mit den Schülern der oberen 8

drei Klassen ,durch Goldbacher Übungen durchgeführt wurden, ,an denen sich 5 bis 12 Schüler beteiligten, ,,denen gelegentlich die Vorteile und die Art der Körperhaltung beim Schneeschuhlauf erklärt wurde; auch wurden sie über die ver, schiedenen Systeme, die Arten der Bindungen sowie über die verschiedene Handhabung beim Auf- und Abschnallen belehrt. Die hygienischen Maßregeln für das Skilaufen wurden besprochen und angeordnet". Bei dem am 12. Februar 1908 vom Skiklub „Telemark" veranstalteten Wetdauf beteiligten sich 1 8 Schüler. Die Strecke führte vom Schoiher bis nach St. Ulrich. Den 1. Preis, Schillers Sämtliche Werke (!), errang Josef Steidl der VI. Klasse mit einer Zeit von 14' 23". Derselbe Schüler siegte auch beim „Alpinen Wettfahren", welches vom Sehoberstein bis zum Klausriegler führte, mit 15' 56.'. Diesmal bestanden die Preise in „kleinen GeJ.dbeträgen". Schillers Werke erfreuten auch den Sieger beim Schispringen 1909, das auf einer selbst gebauten Schanze auf der Vo,gelhuherleiten am Damberg abgehalten wurde (13,7 m). Ferner lesen wir: ,,Die im Vorjahre in die Schülerbibliothek eingestellten Skilehrbücher wurden fleißig gelesen und benützt. Von den 58 Skiläufern hatten 27 eigene Ski. Di<e Anstalt selbst verfügt über 19 Paar Ski verschiedener Systeme." 1915 kann der Leiter der Skiabteilung, Pmf. Goldbacher, infolge der günstigen Schneevevhältnisse berichten, daß „auch das stockfreie Fahren, das Stemmbogenlaufen und die Sprünge" geübt wurden. Größer als die der „Skifahrer" war die Zahl der „Rodelschlittenfahrer"; es gab deren 124, von denen 90 im Besitze eigener Rodelschlitten waren. Aber auch im Sommer ist für körperliche Ertüchtigung gesorgt: ,,Eine maßvolle Pflege des Radfahrens war den körperlich gut entwickelten Schülern nicht untersagt, wofern die Eltern oder ,deren Stellvertreter ihre Zustimmung gaben." So viel zum Sport in der Monarch:ie; später hat Prof. Hans Pichler, der Turnlehrer, den sportbegeisterten Mathematiker abgelöst. Selbst ein begeisterter und gewandter Schwimmer, gründete Goldbacha im Kriegsjahr 1915 ,eine Schwimmriege, die in der für damalige Verhältnisse beispielhaften Schwimmschule der Waffenfabriksgesellschaft, die den Schülern immer wieder Freikarten zur Verfügung stellte, übte. Über die Gründung lesen wir im Jahresbericht: ,,Eine besondere Freude bereitete Prof. G. Goldbacher den Schülern dadurch, daß er aus 25 Schülern verschiedener Klassen eine Schwimmrüge [!] bildete und diese im Schwimmen, Springen und Tauchen ausbildete. Den Abschluß bildete ein Schwimmfest am 26. August, bei dem in Anwesenheit vieler Gäste die Schüler im Wettschwimmen, Tauchen und Springen gute Leistungen boten und hiefür durch, meist von Gönnern gespendete Preise, bestehend aus patriotischen Bildern und Büchern belohnt wurden." Den Wandertagen kam oHensichtlich wesentlich größere Bedeutung zu als heute, 1927/28 gab es noch dr, ei halbtägige und zwei ganztägige im Schuljahr. Es fehlte noch die „fluktuierende Gesellschaft", die Mobilität, viel seltener als jetzt 1mm man über 1die Umgebung der Stadt hinaus, Urlaubsfahrten waren alles andere als selbstverständlich. Während heute die Wandertage in einer Zeile der Schulchronik erwähnt werden, füllten sie in den Jahren bis 9

1918 ganze Seiten. Die Wanderungen Goldbachers beanspruchen besonders viel Raum und ,scheinen einen anderen Charakter gehabt zu haben. Es waren meist Bergwanderungen. 1907 führte er seine V. Klasse am Vorabend nach Weißenbach. ,,Hier verbrachten die Schüler den Abend in fröhlicher Weise bei Lieder- und Grammophonvorträgen und Deklamationen", (vermutlich auch eigener Gedichte des Professors) geno,ssen echt steirischen „Sterz" und übernachteten im Heu. Ausführlich wird der weitere Verlauf über das Meiereck, die Saubodeoolm und St. Gallen geschildert. Andere Wanderziele Goldbachers sind der Schieferstein, der Sehoberstein und die Krausgrotte bei Gams in der Steiermark. Einmal fuhr e, r mit seiner Klasse zur Mödlinger Hütte und ging über das Kalblinggatterl nach Admont, einmal nach Gum nden, einmal nach Persenbeug, und einmal stand eine Wanderung von Windischgarsten nach Großraming auf dem Programm. Um uns nüchternen Menschen des Plastik- und Atomzeitalters noch einmal den Stil jener Vorkriegszeit zu demonstrieren, folgt Goldbachers Wandertagsbericht aus dem Jahre 1908 im Wortlaut. ,,Die VI. Klasse fuhr mit dem Direktor Rolleder und dem Klassenvorstande Professor Goldbacher am 20. [Mail mittags mit der Steyrtalbahn nach Agonitz, von wo ,aus nach Klaus marschiert wurde. Am Wege dahin wurde ,das im Bau begriffene hochinteressante Elektrizitätswerk beim romantischen ,Steyrdurchbruch' besichtigt. Nach einer kleinen Rast in Klaus führte die neue Pyhrnbahn die Ausflügler nach Windischgarsten, wo in Kematmüllers Gasthof ,der Abend und die Nacht verbracht wurden. Der Morgen des 21. war ungemein prächtig und das bergumstandene, schöne Windischgarstnertal erregte die Bewunderung aller. Zeitlich früh begann die Wanderung auf der herrlichen Bergstraße über den ,Hengsten' an lieblichen Almen vorbei, zwischen grünen, enzianübersäeten Bergwiesen mit dem mächtigen Hintergrunde der ,Hallermauern'. In der ,oberen Sägemühle' wurde Rast gemacht, eine Vormittagsjause eingenommen und hierauf der Marsch durch das romantische Tal ,der Oberlaussa fortgesetzt. Nun galt es noch den schönen Waldrücken der ,Pfarreralm' zu übersteigen und frohgemut traffen alle um 3 Uhr nachmittags in dem herrlich g, elegenen St. Gallen ein, wo in Hensles Gasthof bei Sang und Klang und verschiedenen Spielen der übrige Teil des Nachmittags verbracht wurde. Bald waren die schönen Stunden entflohen, die jungen Wanderer eilten nach Weißenbach, von wo sie der mit drei anderen Klassen der Realschule besetzte Zug gesund und fröhlich nach Steyr zurückbrachte." Selbst in den Ferien unternahm Goldbacher Ausflüge mit seinen Schülern, ,so wird etwa 1917 nach ,einer Übernachtung im Heu von einem Ausflug zum Leopoldsteinersee und Ertberg berichtet, einmal von Kletterübungen in den Kremsermauem, einmal von einer Überquerung des Salzsteigjochs bei Klachau. Ab 1917 mußten diese Ausflüge „wegen der bestehenden Verkehrsund Verpflegungsschwierigkeiten" unterbleiben. Dafür lesen wir von der mit Erlaß des k. k. Landesschulrates vom 23. Jänner 1917 bewilligten Errichtung eines „Kriegsgemüseschulgartens", dessen praktische und pädagogische Bedeutung ausführlich hervorgehoben wird. Er lag auf einem Grundstück der Gemeinde Garsten, erstreckte sich über 1400 m2 und war mit „Blattgemüse, Hülsenfrüchten und Wurzelgemüse, Kartoffeln und Mohn" bepflanzt, später wuriden auch Mais und Sonnenblumen angebaut. Besondere Mühe machte das 10

Gießen, weil im Sommer täglich 3000 Liter Wasser in einem Faßwagen aus der Enns geholt werden mußten. Über die Schulwanderungen und die privat unternommenen Bergpartien berichtete Goldbacher häufig in Lichtbildervorträgen, die auch in der Schule abgehalten wurden. Allein im Schuljahr 1921/22 hielt er vier solcher Vorträge, über Berg- und Talfahrten in den Gesäuisebergen, die Ötztaler Alpen, Wanderungen im Sengsen- und Totengebirge und die Hohen Tauern', 1924 erstmalig über die Stadt Steyr, die sein beson:der-es Interesse erweckt, seit er 1916 Korrespondent der k. k. Zentralkommission für Denkmalpflege •geworden war. Hier soll auch jene ,durch viele Jahre fortgesetzte Austauschakcion „Alpenland - Ostseestrand" nicht vergessen werden, •die Goldbacher nach Steyr gebracht und selbst überwacht hat. In ,diese Aktion, welche der Berliner Verein „Lanidaufenthalt für Stadtkinder" in Verbindung mit der Leitung des Deutschen Schulvereins „Südmark" ins Leben gerufen hatte, wurde im Sommer 192 5 auch das Steyrer Realgymnasium einbezogen. Am 1. Juli t11afen vier Schülerinnen und sechs Schüler aus Swinemünde und Kolberg an der Ostsee in Steyr ein und verbrachten den ganzen Monat bei den Eltern der Austauschschiiler. Am 1. August fuhren die reichsdeutschen Gäist·e, die hier viele Ausflüge und Bergbesteigungen unternommen hatten, mit z.ehn Steyrer Schülern ·der 4. bis 6. Klassen (d, arunter einer Tochter Goldbachers) unter seiner Führung über Berlin, durch das man eine 1kurze Straßenbahnfahrt unternahm, an ,die Ostsee. Der Bericht preist die Ostseebäder Swinemünde, Ahlbeck, Herings· dorf und Kolberg, wo wegen des schönen Sommers die Wassertemperatur manchmal 21° erreichte. Die Aufnahme war sehr herzlich, man unternahm Ausflüge zu lande und zur See, etwa nach Stettin oder auf die Insel Rügen. Da diese Aktion so großen Anklang fand, wurde sie in den folgenden Jahren wiederholt. Dem J,ahresbericht für 1926/27 ist zu entnehmen, daß die Teilnehmerzahl schon auf 22 gestiegen war, es gab mit den Gästen von der Waterkant einige größere Bergbesteigungen, sogar eine Floßfahrt von Kastenreith bis Steyr und einen „Abschiedsabend mit musikalischen und deklamatorischen" Vorträgen in der Schwechater Bierhalle. Das Ausflugsprogramm an der Ostsee wurde gegenüber dem Vorjahr erweitert, die dänische Insel Bornheim wurde einbezogen, auch abendliche sogenannte Promenadefahrten zur See. Auf der Rückfahrt wurden Berlin und Nürnberg ausführlich besichtigt. Der damalige deutsche Reichsminister des Auswärtigen, Dr. Gustav Stresemann, sprach Goldbacher am 22. September 1925 seinen Dank für diese Aktion aus. In den folgenden Jahren wird diese Austauschaktion in der Rubrik ,.Förderung der körperlichen Ausbildung der Schüler" immer wieder erwähnt, immer war Goldbacher ,der Austauschleiter; •die Teilnehmerzahl stieg bis 31 je Kurs, Gewichtszunahmen bi,s 7 Kilogramm werden vermerkt. Die letzte Aktion wurde im August 1932 durchgeführt. Die politischen Spannungen zwischen Österreich und Deutschland nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus dürften ihr Ende herbeigeführt haben. 11

Goldbachers außerschulische Tätigkeit Da GoMbacher fast seine ganze Dienstzeit hindurch, selbst während des Weltkrieges mit seinem Personalmangel, die normale Lehrverpflichtung von 17 bis 18 Wochenstunden zu erfüllen hatte, ein Zustand, der heute kaum mehr vorstellbar ist, hatte -er genug der so wichtigen schöpferischen Muße. Diesem Umstand verdanken wir die berühmt gewordenen Gedichtbände „Steyrer Gsangln", ,.Bergsteign und Almalöbn", ,.Gmüatliche Sachn", ,.Draußt auf ,da Weit' " (mit Holzschnitten seines Kollegen Prof. Dr. Heinrich Seidl) und .andere. Dem danken wir auch Forschungen und Veröffentlichungen über das Steyrer Kripperl, jenes berühmte Puppentheater im Steyrer lnnerberger Stadel mit von unten an Stäben bewegten Figuren, seine Tätigkeit beim Verein Steyrer Heimatpflege und all -das andere, worauf einleitend hingewiesen wurde. Ich woilte mich aber hier auf sein Tun in d„er Schule und für die Schule beschränken. Sein Wirken war im Jahres<bericht von 1936 anläßlich der Pensionierung eingehend gewürdigt worden. H Jahre konnte er sich dieses außerordentlich schöpforischen „Ruhestandes" erfreuen. Als ·er am 22. August 1950 starb, widmete ihm der Fachkollege Prof. Josef Luka einen schönen Nachruf. Auch er weist neben der Unterrichtstätigkeit auf die schönen Wandertage hin, ,das Bergsteigen und seinen Mahnspruch „Der .eignen Kraft vertrauen!" Der „Gurs" habe sich, schreibt er, ein Denkmal gesetzt, ,.das ,dauerhafo�r ist als -ein steinernes: die Liebe und Dankbarkeit deiner Schüler." So sollen auch diese Zeilen ein Dank des Verfasse11S für seinen Klassenvorstand, Mathematik-, Geometrie- und Stenographielehrer von 1930 bis 1933 sein, ,der jetzt dort zur Ruhe gebettet liegt, wo er es sich in seinem Gedicht „Da lötztö Weg" gewünscht ,hat: 0 dös Platzerl han i' gern, wo i' schlafn will, daß i'·.s hiatz schon sicha woaß, is a ruahwigs G'fühl. (Quellen : 30.-59. und 68. Jahresbericht dieser Anstalt. •Steyrer Zeitung• vom 16. Oktober 1975) 12

Mag. rer. nat. Dieter Grillmayer Die „neue" Mathematik Die Geometrie von EUKLID bis HILBERT Mathematik als axiomatische Strukturwissenschaft Die KLEINsche Reform des Mathematikunterrichts Die Modernisierungsbewegung Die neuen Lehrpläne Genetischer Unterricht 13

V o r w o r t In den Lehrplänen von 1967 ist das Realgymnasium definiert als jene Schulform, in welcher "die mathematüich-naturwissenschaftlichen Fächer und ihre Bedeutung für unsere Kultur" AuAgangspunkt des "planvollen Zusammenwirkens aller Unterrichtsgegenstände" sein sollen. Damit wird der Mathematik an unserer Schule eine Stellung zugewiesen, die es wohl rechtfertigt, diesem Gegenstand im Jahresbericht ein paar Seiten zu widmen; die gerade in letzter Zeit wieder lebhaft diskutierte "Mengenlehre" verleiht diesem Bericht über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Mathematik als Wissenschaft, als Unterrichtsfach und als Bildungsmittel zusätzliche Aktualität. Seit der Teilung der Schule vor drei Jahren ist unser Jahresbericht infolge der durch die kleinere Schülerzahl bedingten geringen Auflage und der ständig steigenden Druckkosten in finanzieller Bedrängnis. Um trotzdem ein angemessenes Verhältnis zwischen Umfang und �reis zu erzielen, ist dieser Beitrag im Offsetverfahren gedruckt und dem im Buchdruck hergestellten Teil des Jahresberichtes beigeheftet worden. Dazu war es notwendig, das ganze Manuskript nochmals in Maschine zu schreiben; diese Arbeit hat zum Großteil Herr Mag.rer.nat. Helmut LEITNER durchgeführt, wofür ich ihm an dieser Stelle herzlich danken möchte. Dieter Grillmayer 14

Die Geometrie von EUKLID bis HILBERT Jede einigermaßen verständliche Beschreibung der gegenwärtigen Lage der Mathematik wird auf die Vergangenheit zurückgreifen müeAen. Es soll daher zunächst die Entwicklung, welche zu den heutigen Denk- und Arbeitsmethoden der Wissenschaft geführt hat, am Beispiel der Geometrie skizziert werden;diee ermöglicht auch einen kleinen Einblick in die Welt der nichteuklidischen Geometrie. Die Geometrie, welche als eine bescheidene Sammlung empirischer Regeln schon d�n Babyloniern und Ägyptern bekannt war, erlebte ihre erste Blüte, als die Griechen sie als eine beweisende, systematisch zusammenhängende Wissenschaft aufbauten. Die "Elemente" des EUKLID sind der Höhepunkt dieser Entwicklung. Der Wille zum Beweis erfordert, daß jede Behauptung in klar definierten Begriffen ausgesprochen und allein mittels stichhaltiger logischer Schlüsse aus angegebenen Voraussetzungen und schon bewiesenen Sätzen demonstriert wird. Die Griechen bemerkten sehr rasch, daß diese Vorschriften sich selbst aufheben, wenn man sie konsequent befolgen will: um einen Begriff zu definieren, braucht man Hilfebegriffe, diese müssen ebenfalls definiert werden usw,; um einen Satz zu beweisen, braucht man Hilfssätze, die ebenfalls bewiesen werden müsAen usw, Man kommt so weder zu einer gültigen Definition noch zu einem zwingenden Beweis. Offenbar bleibt nur übrig, die endlose Kette der Definitionen und Beweise irgendwo zu zerschneiden, d.h. mit einigen Grundsätzen und Grundbegriffen zu beginnen, die für jeden so einfach und einleuchtend sind, daß weitere Erklärungen überflüssig erscheinen. Grundbegriffe dieser Art sind bei EUKLID z.B. "Punkt", "Gerade" und "Ebene"; einer der Grundsätze, besagt, daß es durch zwei verschiedene Punkte stete eine Gerade gibt. Solche Grundsätze, die unbewiesen am Anfang stehen, heißen Axiome ( EUKLID nennt sie alle�dings Postulate= Forderungen) . Die Axiome setzen die Grundbegriffe zueinander in Beziehung, und aus diesem dünnen Netz von Beziehungen entsteht nun durch konsequentes Weiterweben der reiche und große Teppich der euklidischen Geometrie, Hier zeigt sich zum erstenmal, daß aus wenigen einfachen Beziehungen eine Fülle von verborgenen, nicht mehr unmittelbar einsichtigen Eigenschaften gewonnen werden kann. Diese

�eistung EUKLIDs, die gesamte Geometrie aus wenigen Grundbegriffen herauszuarbeiten, ist eine Wende im menschlichen Denken. KANT hat sie eine "Revolution" genannt. Nun hat unter den Axiomen dieser Geometrie das fünfte von Anfang an eine besondere Rolle gespielt. Es lautet: "Wenn eine Gerade zw·ei andere schneidet und dabei die inneren Winkel, die nach derselben Seite liegen, zusammen kleiner als zwei Rechte sind, so müssen die Geraden, ins Unendliche verlängert, auf der Seite einander schneiden, wo die Winkel liegen, die kleiner sind als zwei Rechte". 9„ o( + ß <: 180° � Schnittpunkt Schon dem Altertum war bei dem 5, Postulat des EUKLID unbehaglich zumute, Man hielt es für zu wenig selbstverständlich, um als Axiom gelten zu können, und PROKLUS verlangte deshalb in seinem Kommentar zu den "Elementen", das 5, Postulat aus der Reihe der Forderungen zu streichen und es aus den anderen Postulaten zu beweisen, zweitausend Jahre lang bemühten sich Mathematiker um einen solchen Beweis - immer vergeblich, Schließlich kam Carl Friedrich GAUSS ( 1777-1855 ) nach vergeblichen Beweisversuchen schon als Student auf die Vermutung, daß das 5, Postulat doch nicht beweisbar ist, Das 5, Postulat ist gleichwertig mit der Aussage, daß es durch einen gegebenen Punkt P zu einer gegebenen Geraden g nur eine Parallele.+) gibt (Satz 31 bei EUKLID), Es wi_rd deshalb auch das Parallenpostulat genannt. Wenn es aus den anderen Postulaten nicht bewiesen werden kann, dann darf man versuchen, es durch die Forderung zu ersetzen, daß es mehrere Parallele zu einer Geraden durch einen Punkt gibt, Ausgehend von diesem Grundsatz entwickelte GAUSS eine "nichteuklidische" Geometrie. Er hat sie selbst nie veröffentlicht, _·weil er sehr wohl wußte, daß sie allen gültigen +) Der Begriff "Parallele" oder "gleichlaufende" Gerade ist für die folgenden Überlegungen in dem Sinn zu verstehen, daß es si_ch um eine in derselben Ebene wie g liegende Gerade g1 handel,t, die mit g keinen (endlichen) Schnittpunkt hat. 16.

Vorstellungen radikal zuwiderlief; so ist der Ruhm, diese Geometrie entdeckt zu haben, den Mathematikern LOBATSCHEWSKI und BOLYAI zuteil geworden. Das mathematisch wichtigste Ergebnis dieser Entwicklung war zunächst die Lösung des Parallelenproblems. Indem gezeigt werden konnte, daß Geometrien logisch denkbar sind, die ohne das Parallelenpostulat auskommen, war erwiesen, daß dieses Postulat keine logische Folgerung aus den anderen EUKLIDschen Axiomen ist. Darüber hinaus gaben aber die neuen �rkenntnisse den Anstoß zu einem fundamentalen Wandel im mathematischen Denken. Bis GAUSS wurde in der Mathematik vorwiegend naturwissenschaftlich gedacht und die Geometrie als "Erdmessung", als Lehre vom Raum betrieben. Davon zeugen auch die Messungen, welche GAUSS an großen Dreiecken durchführen ließ, um allenfalls eine von 1 80 ° abweichende Winkelsumme festzustellen; denn die konstante Winkelsumme im Dreieck ist eine direkte Folgerung aus dem Parallelenpostulat (Satz 32 bei EUKLID). In der nichteuklidischen Geometrie wird nun der Übergang vom naturwissenschaftlichen Denken zum spekulativen Denken in der Mathematik vollzogen. Im Jahr 1871 tat Felix KLEIN mit seinem "Projektiven Modell einer nichteuklidischep Geometrie" einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung. Die Grundzüge dieses Modells für den Fall der ebenen (hyperbolischen) Geometrie seien hier kurz skizziert: Kennzeichnend ist zunächst, daß den Worten "Punkt", "Gerade", "Ebene" eine neue, von der landläufigen Vorstellung verschiedene Bedeutung gegeben wird. Man geht aus von dem Inneren eines Kreises, und dieses Innere ist die "Ebene", in der die lieometrie betrieben wird. Die "Punkte" der Geometrie sind die gewöhnlichen Punkte im Inneren des Kreises, die "Geraden" sind die .K.reissehnen. Damit diese "Geraden" unendlich lang sind, wird als Maßzahl für die Länge einer Strecke AB der Zahlenwert -1� d festgesetzt, worin d das sogenannte "Doppelverhältnis" (Quotient zweier Teilverhältnisse) der Punkte A,B,I,J (siehe Zeichnung) d= IT BI AJ BJ iIT BJ BI AJ ist. Sowohl für A gegen J als auch für B gegen I geht d und somit auch +. ln d über alle Grenzen, für A=B wird d=l und 17

somit auch +• ln d = O, wie es sein soll. I Auf dieses nichteuklidische Längenmaß kann ein entsprechendes Winkelmaß gestützt werden, und die mit dieser Metrik versehene Geometrie der "Punkte" und "Geraden" erfüllt, wie hier nicht explizit gezeigt werden kann. a 1 1 e Postulate des EUKLID mit AuRnahme des Parailelenpostulates. Denn durch P gehen hier unendlich viele "Nicht-Schneidende" ( siehe Zeichnung) . Man darf sich nicht daran stoßen, daß die (euklidischen) Verlängerungen etwa von g und g1 einen Schnittpunkt besitzen. Er liegt außerhalb des Kreises und daher außerhalb der nichteuklidischen Welt, Problemlösern sei noch die Frage gestellt, welcher Sonderfall dieser Geometrie (mit Ausnahme der Metrik) die euklidische Geometrie ist, Die in das KLEINsche Modell eingegangene entscheidende Gedankenwendung besteht darin, daß die konkrete Natur der geometrischen Grundbegriffe geopfert wird, während die in den Axiomen formulierten Beziehungen zwischen ihnen weiter gelten und damit zum wesentlichen Objekt der mathematischen Forschung werden.Andererseits kann man sich unter KLEINs "Punkten" und "Geraden" noch durchaus etwas vorstellen, wie ja die Anschaulichkeit für KLEINs mathematisches Denken kennzeichnend ist (siehe später). 18

Dennoch iet der Schritt von der Manipulation der geometrischen Begriffe bie zur vollständigen Preisgabe eines konkreten Inhalts, wie ihn David HILBERT vollzieht, nicht mehr allzu groß, Er ist allerdings nur verständlich im Zusammenhang mit der Neukonzeption anderer mathematischer Bereiche, wie der Algebra durch GALOIS ( 1 81 1 -1 832 ) , und_ der Schöpfung der Mengenlehre durch .Georg CANTOR (1845-1918), Trotzdem beruft eich die heutige Mathematik vor allem auf HILBERT; seine Axiomatik, sein Formalismus, sein Strukturdenken sind ihre Fundamente, Sein 1899 erschienenes Buch "Grundlagen der Geometrie" verdrängte endgültig EUKLIDs "Elemente" vom Spitzenplatz der geometrischen Bestsellerliste, In der Einleitung heißt ee: "Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Ding�n: die Dinge des ersten Systems nennen wir Punkte,,,, die Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden,,,, die Dinge dea dritten Systems nennen wir Ebenen,,, Wir denken die Punkte, Geraden und Ebenen in gewissen gegenseitigen Beziehungen und bezeichnen diese Beziehungen durch Worte wie 'liegen', 'zwischen', 'parallel', 'kongruent', 'stetig'; die genaue und für mathematische Zwecke vollständige Beschreibung dieser Beziehungen erfolgt durch die Axiome der Geometrie," Wesentlich ist, daß HILBERT nirgendwo sagt, was "Punkte", "Geraden", "Ebenen" sind und auch die Natur der Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen sollen, nicht angegeben wird, Es wird nur gefordert, daß die Beziehungen zwischen den Dingen die in den Axiomen geforderten Eigenschaften haben sollen, Das für die Begründung der euklidischen Geometrie (als einer von vielen möglichen Geometrien) notwendige Parallelaxiom hat bei HILBERT folgenden Wortlaut: "Es sei a eine beliebige Gerade und A ein Punkt außerhalb von a: dann gibt es in der durch a und A bestimmten Ebene eine und nur eine Gerade, die durch A geht und a nicht schneidet," Auch das Wort Axiom selbst hat seinen Sinn völlig gewandelt. War es bis HILBERT eine evident wahre Aussage über (ideal isierte) Gegenstände unserer Erfahrung, so ist es nun eine mehr oder weniger willkürliche, aber jedenfalls zweckmäßige Festsetzung zur Begründung eines formalen Systeme� Dieses System wird wie bei EUKLID durch logisches Schließen aus den Axiomen aufgebaut, erhebt aber k e i n e n Wahrheitsanspruch mehr, Dies folgt unm-ittelbar daraus, daß die Axiome weder wahr noch falsch, sondern einfach vor19

gegeben sind. So hat die Mathematik durch HILBERT ihr scheinbar wesentlichstes Merkmal verloren. BOURBAKI, von dem noch zu sprechen sein wird, sagt dazu: "Die Mathematiker sind immer überzeugt gewesen, daß sie 'Wahrheiten' oder 'wahre Aussagen' beweisen; eine solche Überzeugung kann nur von gefühlsmäßiger oder metaphysischer Ordnung sein, und es gibt auf dem Gebiet der Mathematik nichts, woraus sich das rechtfertigen ließe,.,," Mathematik als axiomatische Strukturwissenschaft Es ist zu verstehen, wenn durch das zuletzt Geschilderte der Eindruck entstanden ist, die Mathematik habe sich mit HILBERT auf Abwege begeben und sei ein nutzloses Gedankenspiel geworden. Dazu muß gesagt werden, daß es reiner Mathematik in keinem Stadium ihrer Entwicklung auf den Nutzen ankam; dieser stellte sich oft erst nachträglich heraus und blieb manchmal den Mathematikern, welche die Theorie entwickelt hatten, vollständig unbekannt. Ähnliches ist auc_h hier der Fall. Gerade durch HILBERTs grundlagentheoretische Arbeiten hat die Mathematik in der Anwendbarkeit eine Ausweitung_erfahren, die vorher undenkbar war, und sie hat dabei nichts von ihrem klassischen Bestand verloren. Ob HILBERTs Denk- und Arbeitsmethode allerdi�gs die für die Mathematik einzig "richtige" ist, bleibt - ganz im Sinne der modernen mathematischen Auffassungen - offen. Diese Frage ist zwar von erheblicher pädagogischer Bedeutung, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, in der wissenschaftlichen Mathematik spielt sie aber heute kaum eine Rolle. Hier hat sich HILBERTs Standpunkt voll und ganz durchgesetzt. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete BOURBAKI, der auch in der Diskussion um die Reform des Mathematikunterrichts immer wieder hervortritt und mit dem es folgende Bewandtnis hat: 1934 begann eine Gruppe junger Mathematiker, die ganze Wissenschaft in der von HILBERT für die Geometrie inaugurierten axiomatischen Form darzustellen, Basis der Darstellung wurden die formale mathematische Logik und die Mengenlehre. Von diesem Kreis wurde die Mathematik zunächst nach drei "Mutterstrukturen" geordnet, und zwar nach Ordnungsstrukturen (z.B. Größenvergleich), 20

nach algebraischen Strukturen (z.B. Rechenoperationen) und nach topologischen Strukturen (z.B. Grenzwert), Um diese ordnen sich dann die verschiedenen komplizierten Strukturen an. Seit· 1939 veröffentlichte die Gruppe unter dem Pseudonym Nicolas BOURBAKI über 3o Bände ihrer "Elements de Mathematique" und verhalf so der neuen Betrachtungsweise zum entscheidenden und weltweiten Durchbruch. Neben dem immer stärker in Erscheinung tretenden Brauchwert des Studiums formaler Systeme mag für den Erfolg BOURBAKis wohl ausschlaggebend gewesen sein, daß sich niemand, der die Verständnisschwelle überschritten hat, der Faszination entziehen kann, welche die neue Mathematik ausübt. Zu diesem Thema und zur Abrundung des Bisherigen sei nun der Schlußteil eines Aufsatzes mit dem Titel "Das Selbstverständnis der modernen Mathematik" (Dr. H. HEUSER, IBM-Nachrichten Feb. 1972) wörtlich wiedergegeben: Das bisher Geschilderte mag deutlich gemacht haben, daß die moderne Mathematik sich nicht mehr allein als Wissenschaft von Zahl und Raum versteht. Ihr Augenmerk richtet sich auf Beziehungen, auf Relationen ohne Rücksicht auf die Relata, also auf das, was zueinander in Beziehung tritt. Letztlich drückt sie damit nur die Grundbeschaffenheit unseres Geistes aus, der nie erkennt, was die Dinge sind- das gescheiterte Anliegen der Metaphysik -, sondern nur feststellen kann, daß die Dinge zueinander in Beziehungen mit gewissen Eigenschaften stehen, Die eigentümliche Leistung der Mathematik besteht nun darin, aus wenigen Primärbeziehungen ein reiches, verwickeltes Geflecht von Sekundärbeziehungen zu erzeugen und damit, im Falle einer konkreten Anwendung, die gesamte logische Struktur eines Gegenstandsbereiches, abgetrennt von seiner Faktizität zu offenbaren. Die Mathematik produziert mit ihren Beziehungsgeflechten gewissermaßen logische Strukturen auf Vorrat und spricht infolgedessen immer dann mit, wenn.Beziehungen zu analysieren und zu logischen Strukturen aufzubauen sind, sie versteht sich folgerichtig als eine Strukturwissenschaft. Kehrt sie aus dem Bereich der Abstraktion in die Wirklichkeit zurück, so feiert sie immer dann Triumphe, wenn sie nachweist, daß äußerlich ganz verschieden aussehende Bereiche die gleiche logische Struktur 21

besitzen, weil zwischen ihren Objekten (äußerlich vielleicht verschieden aussehende) Grundbeziehungen mit denselben Eigenschaften vorhanden sind . . . . Die Emanzipation des menschlichen Geistes ist von immer weiter ausgreifenden Abstraktionsprozessen begleitet gewesen, Der Primitive ist ganz der Herrschaft des einzelnen, konkreten Gegenstandes unterworfen, er beseelt ihn und verleiht ihm Kräfte, die sein Leben bestimmen. Der erste befreiende Abstraktionsprozeß besteht darin, Gegenstände mit gleichen Eigenschaften zu Klassen zusammenzufassen und unter einen Begriff zu bringen. Die zweite Stufe der Abstraktion wird erklommen, wenn die empirischen Gegenstände bzw, die Klassen dieser Gegenstände von unwesentlichen, zufälligen Sinnesqualitäten gereinigt werden und auf diese Weise ein Reich idealer, zeitloser Objekte mit ewig gleichen Eigenschaften entsteht, über die wegen der Konstanz ihrer �igenschaften zeitlos gültige Aussagen gemacht werden knnnen. Diese Stufe wird in der Philosophie von PLATON, in der Mathematik von EUKLID erreicht. Die nächste Stufe des Abstraktionsprozesses finden wir in der modernen Mathematik: die Objekte werden, auch in ihrer idealisierten Form, völlig preißgegeben, Gegenstand des Nachdenkens werden Beziehungen und �trukturen. Wenn die geschichtlichen Analogien nicht trügen, wird diese neue, in der Mathematik vorbereitete Bewußtseinslage den Geist der Zukunft entscheidend umgestalten, Das Vehikel dieser Umgestaltung wird die rapide um sich greifende Mathematisierung immer weiterer Wissenschaften und Lebensbereiche sein, eine Mathematisierung, die gerade durch die hochgradig abstrakte Auffassung der Mathematik als Strukturwissenschaft ermöglicht wird. Gegen eine solche Neuorientierung des Denkens wird sich, wie gegen jede Veränderung, Widerstand aufbauen, Er artikuliert sich schon heute in Herbert MARCUSEs scheinprogressiven "pronunciamentos". Die geistige Emanzipation, die der Mathematik durch ihr Loslösen von der Wirklichkeit gelungen ist, zeigt sich am deutlichsten in dem enormen Freiheitsraum, den sie sich gewonnen hat. Ohne Rücksicht auf die Realität kann sie ihre Axiome selbst schaffen, nur gebunden durch die Forderung, daß die Axiome logisch miteinander verträglich sind. Die 22

verblüffendsten Wirkungen hat die Betätigung dieser Freiheit in Georg CANTORs Analysen des Unendlichen gezeitigt. ts ist kein Zufall, daß gerade CANTOR den Satz geprägt hat: "Das Wesen der Mathematik besteht in ihrer Freiheit". Und Bertrand RUSSELL hat den Durchbruch der Mathematik zu einer axiomatisch aufgebauten Strukturwissenschaft mit den begeisterten Worten gefeiert: "Der größte Triumph der Mathematik ist, entdeckt zu haben, was Mathematik wirklich ist." Die KLEINsche Reform des Mathematikunterrichts Nach diesen Ausführungen über die Grundkonzeption der wissenschaftlichen Mathematik in der Gegenwart soll nun über die Reform des Mathematikunterrichts an höheren Schulen berichtet werden. Im Jahre 1908 wurde in Rom die "Internationale mathematische Unterrichtskommission" (IMUK) gegründet; durch ihre Tätigkeit ist die Reform im 2o. Jahrhundert weltweit initiiert, gefördert und koordiniert worden. Der erste Vorsitzende der IMUK, der deutsche Mathematiker Felix KLEIN, ist Urheber und Haupt der ersten, nach ihm benannten Reformbewegung unseres Jahrhunderts. Um die Ziele der KLEINsehen Reform zu verstehen, muß man zunächst den -Zustand um 1900 beschreiben: Bis etwa 1870 wurde ein vorwiegend wissenschaftlich, nicht pädagogisch oder praktisch orientierter Unterricht erteilt. So wurde z.B. Geometrie nach EUKLIDa "Elementen" vorgetragen. Unter dem Einfluß von Pädagogen wie PESTALOZZI und HERBART wurde dann zunehmend die Forderung nach einer mehr kindgemäßen Methode erhoben. Ihr wurde durch Einführung propäaeutischer Kurse nachgegeben. Die Trennung der reinen Mathematik von der Anwendung rief in den neunziger Jahren den Protest der Ingenieure hervor. Damit erschien der mathematische Unterricht im Spannungsfeld der Tradition, der Mathematik als Wissenschaft, der Forderungen der Praktiker (Technik und Wirtschaft) und des pädagogischen Denkens. Denselb.en Kräften begegnen wir übrigens auch bei der heutigen Reform. Alle genannten Strömungen sollten bei der KLEINsehen Reform Berücksichtigung finden. So wurde in den "Meraner Vorschlägen" der "Unterrichtskommission deutscher Naturforscher und Ärzte" 23

bereite 19o5 unter dem maßgeblichen Einfluß Felix KLEINs für die zukünftigen Lehrpläne verbindlich formuliert: "Einmal gilt es (wie in allen anderen Fächern), den Lehrgang mehr als bisher dem natürlichen Gange der geistigen Entwicklung anzupassen, überall an den vorhandenen Vorstellungskreis anzuknüpfen, die neuen Kenntnisse mit dem vorhandenen Wissen in organische Verbindung zu setzen, endlich den Zusammenhang des Wissens in sich und mit dem übrigen Bildungsstoff der Schule von Stufe zu Stufe mehr und mehr zu einem bewußten zu machen. Ferner wird es sich darum handeln, unter voller Anerkennung des formalen Bildungswertes der Mathematik doch auf alle einseitigen und praktisch bedeutungslosen Spezialkenntnisse zu verzichten, dagegen die Fähigkeiten zur mathematischen Betrachtung der uns umgebenden Erscheinungswelt zu möglichster Entwicklung zu bringen. Von hier aus entspringen zwei Sonderaufgaben: die Stärkung des räumlichen Anschauungsvermögens und die Erziehung zur Gewohnheit des funktionalen Denkens. - Die von jeher dem mathematischen Unterricht zugewiesene Aufgabe der logischen Schulung bleibt dabei unbeeinträchtigt, ja, man kann sagen, daß diese Aufgabe durch die stärkere Pflege der genannten Richtung des mathematischen Unterrichts nur gewinnt, sof�rn dadurch die Mathematik mit dem sonstigen Interessensbereich des Schülers, in dem sich doch seine logische Fähigkeit betätigen soll, in engere Fühlung gebracht wird . " In diesen Sätzen manifestiert sich KLEINs Denkweise sowohl in methodisch-didaktischer als auch in fachmathematischer Richtung. Statt eines logisch-deduktiven soll ein "genetischer" Aufbau im Unterricht vollzogen werden. In einem Tätigkeitsbericht der oben genannten Unterrichtskommission von 1908 findet sich dazu folgende Bemerkung KLEINS: "Erster Grundsatz der\ Schule ist, überall an die Fassungskraft und das natürliche Interesse ihrer Zöglinge anzuknüpfen. Das Vorbild des EUKLID, mit dem man von je das entgegengesetzte Verfahren gestützt hat, ist irreleitend. Man sollte jeder Ausgabe des EUKLID verdrucken, daß der große Verfasser der "Elemente" ganz gewiß nicht für Knaben geschrieben hat. " KLEINs mathematisches Anliegen ist in die "Meraner Vorschläge" mit der Betonung des räumlichen Anschauungsvermögens und des 24

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