92. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1974/75

DIREKTOR DR. RICHARD TREML Skeptische Gedanken zur Allgemeinbildung heute Spätestens seit dem Schulorganisationsgesetz 1962 ist das Wort „All- gemeinbildung" wieder häufiger in der Öffentlichkeit zu hören, wenn auch manchem die Chiffre AHS sdbst heute noch nicht entschlüsselt ist. Seit die Bildung in den Wortschatz ,der politischen Parteien aufgenommen und zum Programm erho 1 ben wurde, hat sie a n Ansehen gewonnen. Leider scheint sie zum Schwammwort zu werden, das allzuviele Vorstellungen aufsaugt, die Begriffe verschwimmen läßt un,d dadurch zum Spielball -in den modernen Di,skussionen wird. ,, Denn eben wo Begri.ffe fehlen , da stellt ein Wort zur rechten Zeit ,sich ein." Nicht umsonst hat Goethe 1 ) dieses Wort dem Teufel in <len Mund gelegt. Die wohl größte Reform, die ,dem berufsbildenden Schulwesen Öster- reichs zuteil wurde, es war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, war das so- gena1mte „ lschler Programm" (1946), <lie Erweiterung der Lehrpläne dieser Schulen durch Fächer ,der Allgemeinbildung. Ihr Umfang ist seither eher noch gewachsen. ,, Vielleicht hat diese frühe un<l in die Zukunft wei,sende Reform dazu beigetragen, daß ,das berufsbildende Schulwesen [ ... ] wenigstens legis- latorisch als <lem allgemeinbildenden Schulwesen gleichwertig in die Bildungs- organisation ei ngefügt werden konnte." 2 ) Und darmn gleich eingangs die provokante Frage: Muß es nicht im Zeitalter der Technik, der Raumfahrt, der Atomzertrümmerung selbstverständlich sein, daß 1 der Absolvent einer all- gemeinbildenden höheren Schule wesentliche Gebiete der Tech1tik u11d der Wirtschaft kennt? Sieht u11ser heutiger Begriff Allgemeinbildung nicht man- cherorts (und bei manchem Menschen) verzweifelt den Artes liberales des Altertums ähnlich, von denen die Grammatik, Arithmetik, Geometrie und die Musik noch ihre festen Plätze in den Lehrplänen aller AHS haben, während die Rhetorik und Dialektik (zur Unzeit) ein Kümmerdasein führen und nur die Astronomi·e bis auf rndimentäre Reste ausgesto,rben ist? Der Genügsame wird festste llen, daß wir au·f dem richtigen Wege sind, immerhin ist aus ,der Geschichte das Fach „Geschichte und Sozialkun1de ", aus der Geo- graphie „Geographi e und Wirtschaftskunde" geworden, die Politische Bildung versucht sich in ,den Lehrplan einzuschleichen, obwohl mancher denken dürfte : „Ein garstig Fach! Pfui ! fan politisch Fach!" Der Elektronenrechner wartet vor den Klassentüren, aber er liegt in den Schreibtischladen unserer Schüler. Aber halt jedem Ungestüm! Wir haben ja unseren Lehrplan, der au,s- drücklich vorschreibt, daß am Realgymnasium „die mathematisch-naturwissen- schaftlichen Fächer und ihre Bedeutung für unsere Kultur " Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit aller Unterrichtsgegenstände zu sein haben . 3 ) Bei vielen werden Zweifel an der Erfüllbarkeit wach, besoruders wenn sie im gleichen Kapitel den bekannten, von aI!en Lehramtskanditaten auswend'ig zu lernenden Paragraphen 2 des Schulorganisationsgesetzes finden, ,der vorschreibt, an ,der Entwicklung der Anlagen der Jugend auch nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen mitzuwirken, wobei bisher zu wenigen Menschen 4

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