90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

in den USA jährli ch ihr El ternhaus; sie tauchen in den Straßen von Chicago und New York unter und suchen dort ein zweifelhaftes Glück. Man wird die letzten Motive dieser Flucht nur schwer erfassen können, jedenfalls verraten sie den totalen Zerfall mit der Gesellschaft. Ob nicht die Unsicherheit der Erwachsenen mit schuld ist an diesem Versagen, eben die Unsicherheit, die sich in der Identitätskrise Amerikas ausdrückt? Wir sollten uns klar machen , was Autorität ist, um durch unser Verhalten zu erreichen, daß nicht auch die echte Autorität in Bausch und Bogen verworfen wird. Viele Erzieher - Eltern und Lehrer - versuchen es mit der Selbsterziehung der Kinder in selbstgewählter Tätigkeit und mit dem völligen Gewähren- lassen. Das kann in der Heilpädagogik nötig und hilfreich sein; Summerhill z. B. hat es erwiesen. Sein Leiter ist nicht autoritär, hat aber Autorität in hohem Maße. In der öffentlichen Schule, die den jungen Menschen für das Leben in der Gesellschaft vorbereitet, wäre das Verfahren so weltfremd, daß es bald in Zügellosigkeit und Auflösung enden müßte. Man darf dem Lehrer nicht ein Prinzip aufzwingen wollen, mit dem er in seinen Verhältnissen scheitern muß. Es ist interessant, daß die revolutionäre Jugend, die von der Gesellschaft völlige Freiheit verlangt, in ihren eigenen Reihen Disziplin und Gehorsam fordert. Ordnung und Freiheit sind keine unversöhnlichen Gegensätze. Der Mensch muß lernen, beide ins Gleichgewicht zu bringen. Das allerdings ist eine schwierige Aufgabe, die in der Schule an jedem Tag neu gelöst werden muß. Und die Ordnung muß glaubwürdig sein, denn sie braucht Vertrauen. Desha lb wird es wenig helfen, sich auf eine Erziehung zum Gehorsam zu versteifen. Man sollte die geforderte Haltung des Jugendlichen überhaupt nicht allzu sehr mit Gefühlselementen belasten. In einer Zeit, die alles rational durch- dringen will, leuchtet das Prinzip der Einordnung mehr ein als das der Unterordnung. Das Problem stellt sich der Vernunft, nicht der Moral. Was früher mit „Befehl und Gehorsam " ausgedrückt wurde, wird heute besser ver- ständlich gemacht mit „ Informat ion und Eingliederung " . Die Ordnung des Gefüges muß allerdings verstanden werden ; auch die gemä- ßigte Jugend ist heute nicht mehr bereit, sie blind zu übernehmen. Auf die ,,mitdenkende Bereitschaft " des Jugendlichen wird es letzten Endes ankom- men. Konsequenzen Es hat eine Zeit gegeben, in der wir in unseren Erziehungsgrundsätzen allzu sicher geworden waren. Wir haben inzwischen in vielem umlernen müssen. Aber das Pendel hat nach der anderen Seite ausgeschlagen. Heute leiden wir an der großen Unsicherheit in den grundlegenden Fragen , in denen uns nur die Bereitschaft nachzudenken und das mutig neu zu entscheiden , weiterhel- fen kann . Die Tendenzen, die auf das Gymnasium einstürmen, sind wider- sprüchlich und ihre Befürworter gehen so weit, daß sie das Bestehende über- haupt negieren. Wir sind in der Gefahr, uns von utopischen Vorstellungen verwirren zu lassen und dem Zwang extremer Ideologien zu erliegen. Die Unsicherheit kommt aber nicht aus der Struktur des Gymnasiums selbst, sondern aus der gesellschaftlichen Situation, in die das Gymnasium einge- bunden ist. Ob es uns gelingen wird, wieder Boden unter die Füße zu be- kommen, wird mit von der Entscheidung der Eltern abhängen. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß die Kraft der gymnasialen Schule stark genug ist, um in einer ungebrochenen Kontinuität weiter zu wachsen. Freilich kann es diese Kontinuität nur geben, wenn wir bereit sind, an den notwendigen Reformen zu arbeiten. Reformen tun uns not, nicht der revolutionäre Umsturz, aber auch nicht das unbewegliche Verharren auf dem, was ist. 88

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