90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

Fähigkeit, schon als Jugendlicher sein Leben zu gestalten, die Berei tschaft zu helfen, der freie und neidlose Verzicht auf Gaben, die die Natur versagt hat. Nur der Erzieher, der weiß, daß solche Werte der Leistung gleichrangig sind oder ihr vielleicht sogar übergeordnet, wird ihr den richtigen Raum im Leben des jungen Menschen zuteilen . Leistung ist uns zum Problem geworden, aber das Problem läßt sich lösen. Der Wert des Gymnasiums wird allerdings sehr stark davon abhängen, ob es Lehrern, Eltern und Schülern gelingt, zur Lei - stung wieder ein natürliches und gesundes Verhältn is zu gewinnen . Allgemeinbildung und Spezialbildung Die Frage nach dem Wozu? mündet in die weitere Frage nach dem notwen- digen Lehrstoff. Was so ll am Gymnasium gelehrt werden? Natürlich das, was man im Leben braucht, heißt die rasche Antwort. Aber diese Antwort sagt nicht vie l aus. Einerseits braucht man im Leben mehr Kenntnisse als man jemals auf cler Schule zu lernen vermag, andererseits beginnen die Zweifel gerade bei der Überlegung, was man wirklich braucht. Es gibt Leute, die in verzweifelten Alltagssituationen sagen : hätte ich doch auf der Schule gelernt, wie man einen elektrischen Schalter repariert, statt al l der theoretischen Erör- terungen über die Eigenschaften des elektrischen Stromes! Aber das ist wohl zu kurzsch lüssig gedacht. Dieser Forderung steht gegenüber, was die moderne Industrie sagt. Sie mahnt Schulen und Hochschulen: Seht zu, daß der Schüler und der Student über das Grundwissen verfügt, das Spezialwissen bringen wir ihm selbst bei. Die Widersprüchlichkeit läuft schließlich hinaus auf die alte Fragestellung : ,,Allgemeinwissen oder Spezialwissen " ? Während des ganzen 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war das Gym- nasium überzeugt von der ausschließlichen Wichtigkeit des Allgemeinwissens. Durch Allgemeinwissen wurde der Mensch gebildet, und gebildet zu sein war eine hohe Auszeichnung. Die junge Generation versteht diesen Begriff nicht mehr. informiert sein bedeutet ihr mehr als gebildet sein. Nur das Wissen mit dem aktuellen Bezug der Verwendbarkeit hat vor ihren Augen Anspruch auf Wert. Nun macht man im laufe eines Menschenlebens die seltsame Entdeckung, daß es heute bei de r starken Verflechtung aller gesellschaftlichen Prozesse fast nichts gibt, was man nicht in irgendeiner Stunde aus dem verborgenen Schatz se ines Schulwissens hervorholen möchte. Der moderne Arzt z. B. muß sich in den Mechanismus eines Computer,s vertiefen und erinnert sich, auf dem Gymnasium im Zusammenhang mit Leibnitz vom Dualsystem mit der Grund- zahl 2 gehört zu haben . Wohl dem, der die Erinnerung aus den tieferen Schichten sei nes Gedächtnisses hervorholen kann; aber auch der, der es nicht vermag , wird ,sich schneller zurechtfinden, wenn er das System schon einma l verstanden hat. In der betreffenden Schulstunde von einst war er sicher überzeugt davon, daß er dieses Wissen nie werde verwenden können . Die wechselseitigen Bezüge des Wissens werden uns von Jahr zu Jahr deut- licher. Andererseits wollen junge Menschen lieber einen ganzen Vormittag mit den Spezialfragen ihres Interesses verbringen, als daß sie den Stunden- wechsel von Latein über Mathematik zur Physik und Sozialkunde durchlaufen. Die moderne Lernforschung hat einen Schlüssel gefunden, der weiterhilft : Sie untersche idet zwischen ei nem Orientierungswissen, das in weite Gebiete ausgreift, und einem Leistungswissen, das der Mensch im späteren Beruf benötigt. Auf dieser Unterscheidu ng baut z. B. die neue Kollegstufe auf. Hier finden sich neben den über alle Fachbereiche gestreuten Grundkursen die anspruchsvolleren Leistungskurse, die jeder Schüler nach Begabung und Nei - gung wählt, wobei die Grundkurse mehr einem allgemeinen Weltverständnis dienen, die Leistungskurse mehr einer fachlichen Ausbildung . So gewinnt die Verwendbarkeit der Wi ssenstoffe ei ne doppelte Bedeutung . 86

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