90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

chischen Ursprungswortes, das „auswählen, unterscheiden, entscheiden, beur- teilen" bedeutet, zu jeder geistigen Leistung gehören. Aber wo führte es hin, wenn man Kritik zum absoluten Zielwert einer Erziehung machen wollte? Eine Übersättigung mit Kritik kann geradezu leistungsunfähig machen. Kritik als Denkansatz ist unerläßlich - besonders in einer Zeit, die den Menschen ständig der geistigen Manipulation aussetzt, Kritik als Denkergebnis aber ist doch wohl ein unzureichender Erziehungsgrundsatz. Wir dürfen nicht aus Kummer über die Auswüchse des rücksich ts losen Leistungsprinzips in das andere Extrem verfallen und auf den Leistungsanspruch in der Schule ganz verzichten. Machen wir uns doch klar, jeden Tag, den wir im gesellschaftlichen Prozeß verbringen, verlangen wir von unserer Umwelt Leistung: wenn wir den Arzt in Anspruch nehmen oder den Rechtsanwalt oder wenn wir auch nur einen Auftrag an den Elektriker geben: wir verlangen Leistung, wenn wir im Theater sitzen oder im Konzert, wir verlangen Leistung von unserer Stadtverwaltung und nicht zuletzt verlangen wir Leistung von den Lehrern unserer Kinder. Mit seiner Leistung erfüllt der Mensch seinen Beitrag zur Gesellschaft und erstat- tet, was er ihr schuldet. Woher aber soll alle Sorgfalt, Exaktheit und Fach- kenntnis kommen, wenn sie nicht in den Ausbildungsstätten erworben wurden? In der Schule ist Leistung freilich kein absoluter Wert, sie ist immer im Ver- hältnis zu dem Menschen zu sehen, der sie erb racht hat. Was für die Schule nottut, ist nicht der Verzicht auf Leistung, sondern eine Humanisierung des Leistungsvollzugs. Und diese geschieht m. E. auf dreifache Art: 1. Der Erzieher muß bei jeder Leistung, die er verlangt, fragen wozu? Die in den 60er Jahren einsetzende Bildungsexpansion hatte mit einem Report der OECD in Paris begonnen. Dort war mit viel Zahlenwerk nachge- wiesen worden, daß das wirtschaftliche Wachstum jährlich um 5 Prozent ge- steigert werden kann , wenn neben den drei klassischen Elementen Kapital , Rohstoff und Arbeitskraft eine vierte Voraussetzung gegeben ist: Die laufende Verbesserung des Bildungsstandes der Bevölkerung. Das war damals eine Entdeckung, durch die das Bildungswesen für die Wirtschaft interessant wur- de, aber sie führte zu einem schlechten Start der Bildungswerbung. Wenn die gesteigerte Ausbildung des jungen Menschen nur eine Steigerung der Produktion dienen soll, dann ist der Weg in die unmenschliche Ausbeutung in der Tat offen. Aber das kann nicht für die Schule gelten. Nur wenn dort Lei•stung Entfaltung und Selbstverwirklichung bedeutet oder abgestellt ist auf den Dienst an der Gesellschaft, dann wird die Gefahr der überspitzten For- derungen gering sein. 2. Die Forderung nach Leistung muß sich im Gleichgewicht von Können und Wollen halten . Sobald dieses Gleichgewicht gestört ist, kommt es zu dem hektischen Ler- nen, zu den Dressurakten in der Schulstube und zuhause, zu den Streßsitua- tionen, die schließlich entmutigen. Man muß wissen, daß gerade das Kind ein Kräftereservoir braucht, das nicht bis zum letzten ausgeschöpft werden darf, weil sonst die Quellen versiegen. Eltern und Lehrer müssen als ver- bündete darüber wachen, daß die Jugendlichen nicht vergammeln, weil sie sich nicht zur Leistung verpflichtet fühlen, aber auch darüber, daß sie bewahrt werden vor jeder Überforderung. Man muß wissen, was man einem Kind zumuten darf, und es · gil t nicht für jedes Kind das gleiche. Glücklich das Kind, von dem das gefordert wird, was -seinen Kräften entspricht! 3. Die Leistung muß in der Skala der Werte den richtigen Rang haben. Sie muß gewissermaßen entmythologisiert werden. Denn es gibt noch andere Werte, die dem Leben einen Sinn verleihen ; auf die Schul e bezogen : der freundschaftliche Verkehr mit den Mitschülern, die 85

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