90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

Leistungsterror, Leistungsstress, die offensichtlich Schatten auf unserem Da- sein anzeigen und uns beunruhigen? Aus der Welt der Erwachsenen tauchen Vorstellungen vor uns auf, wie etwa die vom Arbeiter am Fließband, in dem wertvolle seelische Reaktionen durch den Stumpfsinn seiner Tätigkeit abge- tötet werden, oder vom Stachanow-System, das aus dem Menschen die letzten Kräfte herausholt, um ihn schließlich vorzeitig verbraucht und entleert seinem Schicksal zu überlassen - die eine Institution eine Erfindung des Westens, die andere eine Erfindung des Ostens. Und das alles um Produk- tion und Gewinn zu steigern. Das ganze Instrumentarium der Psychologie wird aufgeboten , um die Verfahren der Leistungssteigerung zu verfeinern, der Mensch fühlt sich ausgeliefert an anonyme Mächte. Daneben gibt es die selbst verschuldete Überbeanspruchung, die dem Ehrgeiz dient oder den immer kostspielerigen Wünschen des gesteigerten Lebensgenusses; die Wohlstands- gesellschaft mit ihrem Mangel an Arbeitskräften bietet dazu jede Chance. Suchen wir die Parallele in der Welt der Schule, so treffen wir auf den unseligen Kreislauf, der damit beginnt, daß die Transparenz der Zeugnisse gefordert wird und die rechtzeitige Vorwarnung. Der Leistungsabfall wird sichtbar gemacht, es kommt die Angst der Eltern vor der Zukunft und es werden alle Mechanismen der Gegenwirkung eingesetzt von der Drohung und harten Kontrolle bis zum Verbot des Sp iels und zur Strafe. Und wenn das Kind nicht stabil genug ist, wächst in ihm die schreckliche Angst, ob es das Soll auch erfüllen wird. ,,Das Soll könnte nicht erfüllt werden" - was hat diese Vorstellung schon für Verwüstungen angerichtet in den Herzen junger Menschen und in den sorgenvollen Gedanken der Eltern! Da heute alle ,schulischen Verläufe überschaubar geworden sind, setzt der Kampf um die Lebenschance gewissermaßen schon beim Lernen der unregelmäßigen Verben ein. Bereits in den unteren Klassen gibt es Fo rmulierungen wie diese : „Die nächste Schulaufgabe entscheidet". Ein schlimmes Wort für die Ohren sensibler Kinder und trotzdem oft gehört aus dem Mund von Eltern und Lehrern , die nicht wissen, daß Angst ein schlechter Ratgeber für Kinder ist. Und wenn sich das alles wiederholt, stellt sich im Kind die anhaltende Depression ein, die Lähmung des Denkvollzugs, die Verführung zum Schwin- deln, die Flucht in Scheinbewährung und Ersatzleistung auf abseitigen Ge- bieten bis hin zur „ großen Verweigerung" der Halbwüchsigen, die den Eltern so schwere Not bereitet. Der mechanische Leistungsdruck hat schon oft die Freude am Lernen zerstört. Und wie kann auf der anderen Seite Leistung den jungen Menschen be- glücken! Ich denke gar nicht zuerst an die guten Noten, die vergnügt nach Hause gebracht werden , oder an den frühen Lorbeer, den sich der Hundert- meterläufer in seiner Schulmannschaft holt. Aber es gibt eine Lust der Er- kenntnis: etwa beim Lösen einer Mathematikaufgabe, wenn sich der Knoten öffnet, bei der Einsicht in einen physikalischen Vorgang, wenn der Zusam- menhang klar wird, oder beim gekonnten Lesen eines fremdsprachigen Textes, wenn das Denken in der fremden Sprache sich einstellt. Und es gibt die Lust am schöpferischen Tun, wenn der Schüler spürt, daß ihm ein Aufsatz oder eine künstlerische Arbeit rundum gelungen ist. Ganz einfach das Bewußtsein, daß sich eigene Begabung entfaltet, kann ein lustvolles Erlebnis sein . Und noch nüchterner gesprochen , es re icht schon die Erfüllung der Pflicht. Am Morgen in die Schule zu gehen und zu wissen daß man alle Aufgaben für den kommenden Tag fi x und fertig in der Büchertasche oder im Kopf hat, dieses Bewußtsein kann das Lebensgefühl eines jungen Menschen beschwin- gen. Leistung muß nicht drücken, auch wenn sie nur mit Anstrengungen zu haben ist. Man hört neuerdings viel von der sogenannten Kritischen Schule, die das Leistungsstreben grundsätzlich ablehnt ; hier soll Leistung durch kritisches Denken ersetzt werden. Nun wird krit isches Verhalten im Sinn des grie- 84

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