90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

befinden sich nur 20 °/o Prozent Arbeiterkinder; also gerade die Schicht, der man zu einem breiteren Aufstieg verhelfen wollte, ist nicht in dem Ausmaß ge- wachsen, wie man es nach dem Prinzip der Chancengleichheit erhofft hatte. Ferner hatte man erwartet. daß ein begabtes Kind, das zunächst wegen seiner soziokulturellen Benachteiligung in Kursen niedrigen Niveaus beginnen mußte, im Lauf der Zeit in Kurse höheren Niveaus aufsteigt, während das schwächer begabte Kind, das zunächst - vielleicht durch besondere Hilfsmaß- nahmen gefördert - in einen zu anspruchsvo llen Kurs eingetreten war, im laufe der Zeit in den ihm entsprechenden Kurs absteigt. Die Untersuchungen haben ergeben, daß der Wechsel der Kurse eine Selten- heit bleibt, besonders für den Aufstieg . Häufiger, aber auch nicht allzu häufig vollzieht sich der Abstieg. Sobald die zweite Fremdsprache eingesetzt hat, ist der Wechsel so gut wie undurchführbar. Die Durchlässigkeit ist nach diesem Ergebnis in der Gesamtschule nicht größer als im dreigliedrigen System, ja der Kölner Psychologe Josef Hitpass, der die damit zusammenhängenden Probleme kritisch untersucht hat, ist sogar der Meinung, daß sich die schichtenspezifische Auslese im Gesamt- schulsytem noch verschärft. Wenn sich aber die Zuteilung der Schüler in drei Niveau-Kurse so schnell verfestigt, wie die Testverfahren vermuten lassen, dann ergibt sich die alte Dreigliedrigkeit genauso wie im gegenwärtigen System. Von Chancengleich- heit kann jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn die Flügel der breiten Begabungsphalanx im gemeinsamen Kernunterricht zu kurz kommen ; ich meine die Schwachbegabten, die den Mut verlieren, und die Hochbegabten, die sich langweilen. Auch die Untersuchungen über das Sozialverhalten in der Gesamtschule lassen aufhorchen: Die enge persönliche Verbundenheit in den Niveau-Kursen ver.stärkt den Binnenkontakt ohne Zweifel, erhöht aber ebenso den Gegen- satz zu den Schülern anderer Kurse. In den Pausen , so berichtet man , stehen die Teilnehmer der Kursgruppen beieinander und schließen sich nlcht weniger ab als im bestehenden Schulwesen die Klassen. Was aber bei der zufälligen Einte il ung der Klassen nach altem System unbedenklich war, birgt in den Niveaugruppen den Stachel in sich, daß die Aufteilung nach Begabung und Lernfähigkeit erfolgt ist und den Begabungsunterschied auch nach außen hin sichtbar macht. Die Gesamtschulidee kommt - wie ihre Väter selbst bekennen - in erster Linie aus politischen Erwägungen , nicht aus pädagogischen. Sie ist in der Schulgeschichte nichts Neues. In der amerikanischen High-School wird das Gesamtschulsystem seit langem praktiziert; und doch haben gerade in den USA die Schüler- und Studentenrevolutionen ihren Anfang genommen , die Ge- samtschule hat das Land trotz der allgemeinen Integrat ion nicht davor be- wahrt. In England hat sich die vergleichbare Comprehensive-School vorerst nicht durchgesetzt ; Traditionalisten und Comprehensivisten ziehen weiterhin gegeneinander zu reld. Die Machtergreifung der Comprehensive-School schei- terte vorwiegend an dem Widerstand der Eltern. Ist es doch vorgekommen , daß Politiker, die sich öffentlich für die Comprehensive-School eingesetzt hat- ten, sie für den eigenen Gebrauch verschmähten und ihre Kinder in die exklusiven Privatschulen schickten. Und auch was der Gö.teborg-Report über das System in Schweden berichtet , wo die Gesamtschule am konsequentesten durchgeführt ist, müßte uns vorsichtig machen . Der Leistungsrückgang gegen- über dem traditionellen System ist dort offenkundig. So ist es zwe ifellos gut, daß. in den Ländern der Bundesrepublik Versuche mit Gesamtsch ulen gemacht werden. In einigen Jahren muß sich zeigen, wel- ches System den Vorzug verdient. Es wäre aber verwegen, schon heute durch politische Entscheidung vorweg festsetzen zu wollen, was die experimentelle 82

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