90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

tel, auf denen die jeweilige Erdschicht , ihr Alter, ihre Tiefe und Besonder- heiten vermerkt sind. Die Sonne brennt nun unbarmherzig auf die gekrümmten Rücken , der auf- gewirbelte Staub bleibt auf den schweißnassen Körpern hängen. Es ist sehr still geworden . Die Touristen haben sich längst in der schattigen Laube eines kleinen Wirtshauses untergebracht , sogar die Zikaden sind leiser geworden . Das ganze Land scheint von einer unendlicher( Melancholie überschattet zu sein . Jedesmal , wenn ich in einer gotischen oder romanischen Kirche , in einem römischen Amphitheater oder eben im kretischen Knossos sitze, ist es dasselbe unbeschreibliche Gefühl, das mich hindert , frei über die-ses Kunstwerk· zu sprechen oder gar mit eine r Touristenherde mitzuwandern , zu photographieren, wenn der Führer es sagt, die Augen aufzumachen , wenn der Führer es sagt , kurz, das ganze Kunstwerk mit den Augen des Führers zu sehen und erst durch diesen in Beziehung mit dem Kunstwerk zu treten . Denn daß es eine Beziehung gibt zwischen uns und dem Alten, das glaube ich ganz bestimmt. Nicht, daß ich etwa nur Altes für ein Kunstwerk ansehe, ich finde die moderne Architektur, Brasilia zum Beispiel, genauso bewundernswert wie antike Städte . Moderne Kunstwerl<e üben , wie ihre jahrtausendealten Vorgänger ihren eigenen Zauber aus, dem man sich kaum entziehen kann. Und doch glaube ich , daß es eine tiefere Verbindung zwischen dem alten Kunstwerk und mi r gibt. Der gewaltige Reiz des antiken oder gar prähisto- rischen Kunstwerks ist für mich damit zu erklären , daß sich in ihm die Men- schen früherer Jahrtausende mir offenbaren, daß sie mir ihr Wissen mit- teilen , ihre Freude, ihre Kultur, ihr Wesen. Für mich ist das Kunstwerk ein Mittel, um mit einem anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, um ihn und sei ne Handlungswe ise verstehen zu lernen . Ein Kunstwerk kann mir helfen , die Geschichte meines Landes und meiner Vorfahren zu begreifen, es kann mir angenehme und häßliche Dinge über- mitteln. Durch diese Schulung und dieses Verstehenlernen der Menschen , die vor Jahrtausenden gelebt haben, die mitgeholfen haben , um uns ein angenehmes, technisch fast perfektes Leben zu sichern , wird es mir leichter gemacht , meine Zeit und meine Mitmenschen zu verstehen. So ist das Kunstwerk nicht nur da, um mich zu erfreuen , es verkörpert nicht nur einen gewissen kunsthistorischen Wert, es macht mich auch offener meiner Mitwelt gegenüber, kritischer und verantwortungsbewußter für die Generatio- nen, die nach mir kommen. Hinter dem Zollhaus im Norden der Palastanlagen hört man wieder Touristen , die Zikaden lassen ihre verborgenen Instrumente wieder voll ertönen, aus ei nem Haus dringt das Spiel zweier Flöten , der Himmel hat eine sattere Farbe bekommen, sein tiefes Blau spiegelt sich im Meer, das man weit draußen zwi- schen zwei Hügelketten liegen sieht. Bald muß ich wieder hinunter nach Heraklion , vorbei an den Weingärten , kleinen, weißgekalkten Häusern , an den Brunnen vorbei hinunter zum Meer. Habe ich zu lange von diesem wundervoll en Kunstwerk erzählt? Beschreiben kann man es schlecht , nu r seine Zauber wiederzuerwecken kann ich versu- chen. Sie wollen wissen , was es für mich bedeutet. Vielleicht ist es mir ge- lungen , einen Schimmer jener kretischen Atmosphäre einzufangen. Es hat mich mehr beeindruckt als alle die vielen anderen Kunstwerke, die ich schon sah. Sogar die Akropolis hat ihren Glanz in meiner Erinnerung verloren . Knossos hat mich vielleicht am meisten beeinflußt, mir am deutlichsten Gewalt, Kraft , Schönheit und Reiz eines Kunstwerkes gezeigt. Ich glaube, es war eine der wichtigsten Stationen meines Lebens, jener Mittag im son- nenverbrannten Palast, zwischen Ruinen und Schätzen , allein mit aen Zikaden und dieser eigenartigen Insel. 45

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