90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

13urian Beatrix, 8 B, Matura-Arbeit aus Deutsch WAS BEDEUTET MIR EIN KUNSTWERK? Der Himmel wölbt sich wie ein riesiges, weitgeschwungenes Dach aus blauem Murano-Glas über den braunen , kahlen Bergrücken . Die Luft ist erfüllt von dem ununterbrochenen, monotonen Konzert der Zikaden . Auf einem gegenüberl iegenden Hang erscheint eine Schafherde und bewegt sich in einer Staubwolke hinunter. Aus dem aufgewirbelten Sand taucht ein flötenspielender Hirte auf. Klar dringt die Melodie herüber und vermischt sich mit der ewig gleichen Symphonie der Zikaden. Ich gehe den Gang entlang. Links öffnet sich eine Tür nach der anderen , gewaltige Gefäße säumen rechteckige Vertiefungen , eine Kammer ,schließt sich an die andere, das Labyrinth des Minotaurus liegt, ins grelle Licht der ägäischen Sonne getaucht, da. Die Vorratsgefäße halten, an überaus dicke Soldaten erinnernd, Totenwache im ausgestorbenen Palast. Ihre ansehnlichen Bäuche sind leer, seit Jahrtausenden füllt man sie nicht mehr mft Getreide, Oliven oder Öl. Die Menschen , die sie benutzten, sind längst tot und zerfallen ; jetzt betastet sie nur noch eine Archäologe, klebt ihre Scherben zusammen , pflegt sie als imposante Museumsstücke. Ich komme nähe r und setze mich auf eine Stufe. Die Verzierungen der ge- brannten Tongefäße treten in dem klaren Licht scharf hervor. Zwischen den verschlungenen Bändern, die rund um diese Vorratsbäuche gewunden sind, spielen Kinder, blühen große Lilien, weiden starke Stiere und schwimmen Delphine. Diese Pithoi sind zwei bis vier Meter hoch , in einem Stück ge- brannt. Die Technii~ dieser antiken Töpfer ist zu bewundern. lcl1 wandere weiter, hinaus auf die riesige Terrasse , die von rotschwarzen Säulen flankiert wird. Breite Treppen führen in das nächste Stockwerk, die kecke , hübsche „ Pariserin " lächelt von der bemalten Wand. Damen in rau- schenden Gewändern ziehen in feierlicher Prozession vorüber, Knaben sprin- gen über dunkelbraune Stiere, ein Schauspiel wird den Besuchern geboten , die Palastbewohner grüßen von den Wänden herab, bieten dem Fremden Gastfreundschaft an, faszinieren, verwirren , erregen ihn . Das breite, mit Fresken von Delphinen und Lilien ausgeschmückte Treppen- haus zieht die Touristen magisch an; sie strömen ihren Führern nach, blok- kieren die weiten Gänge , erfüllen mit ihrem Geschwätz die Halle, werden herdenweise durchgeschleust von einer Stufe zur anderen , dringen von einem Stockwerk ins andere, verlassen das Treppenhaus endlich . Noch lange hört man das Klappern ihrer Sandalen und ihr in den Gängen vielfach verstärktes Gerede. Dann sitze ich wieder allein auf den Stufen , nur das Konzert der Zikaden und der Gesang eines kretischen Arbeiters sind zu hören . Einschlä- fernd leiert er immer dieselbe Melodie, die rotschwarzen Säulen fangen zu tanzen an, die Lil ien neigen sich und die Delphine springen . Ich träume von Knossos. Ich träume von diesem Palast, wie er vor dreitau- send Jahren war, von se inen Bewohnern , von seiner Umgebung. Ich träume von den Alabasterstufen und Kristallfiguren , von den goldenen Vasen und gewaltigen Pitho i, von den Badewannen und Sarkophagen , von den Schiffen und Wagen , von der breiten Straße im Westen und dem Kai am Osthang , von dem kleinen Theater und dem großen Platz, von den Königen und ihren gewaltigen Fiatsherren, von den Sklavenhändlern und den Unfreien. Draußen hört man Lachen und laute Rufe. Ich schrecke auf, erhebe mich und verlasse das Treppenhaus. Auf dem Platz hat man eine rechteckige Vertiefung geschaffen , in der drei kretische Arbeiter knien und mit kleinen Schaufeln das trockene Erdreich wegschaffen. Daneben sitzen vier englische Studenten . Der eine durchsucht die Erde und sortiert die gefundenen Scherben , der andere trägt auf Millimeterpapier die Lage und Tiefe der Grabungsstelle ein , die anderen befestigen an den Wänden der ausgehobenen Vertiefung kleine Zet- 44

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2