85. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1967/68

Fehlen eines überzeugend eigenständigen Stiles führten zum Nachahmen der Gotik. Man war sicher, daß sich das eigene Empfinden und neugotisches Schaffen mit Geist und Erzeugnissen der mittelalterlichen Gotik deckten. Die Neugotik erhielt mit der Weiterführung des Kölner Dombaues (Dombau- fest 1842) ihre erste machtvolle Ausprägung in deutschen Landen. In Ober- österreich wurde beim Jesuitenkolleg am Freinberg in Linz um dieselbe Zeit erstmals neugotisch gebaut. Heute würde man nicht mehr wagen, vergangene Kunst nad1zuahme11 und eine Identität künstlerischen Ausdruckes zu vermuten. In der Zeit der historisierenden Kunstrichhmgen besaß man aber das oft fraglose Selbst- vertrauen in die eigene Fähigkeit, eine längst vergangene und unwiederhol- bare Periode künstlerischen Schaffens nachzuvollziehen, und das nicht etwa wissenschaftlich in intellekh1eller Kunstkritik, sondern produktiv neuschaf- fend. Dazu gab es auch Autoritäten: was die Architektur betrifft, etwa den Schöpfer der Votivkirche, Friedrich von Schmidt, den Architekten des Linzer Neuen Domes, Vinzenz Statz, oder den Wiener Dombaumeister Julius Her- mann . Nur eine Epoche mit mangelndem Verständnis für das Historische konnte es unterfangen, untergega ngene Stile neu aufzugreifen, und tatsäch- lich war das 19. Jahrhundert, ,, das Jahrhundert der Geschid1te " mit seinem großartigen Aufschwung der histori sd1en Wissensd1aften, 1ticht eben die Epoche einer Wissenschaftskritik der Geschichte mit irgendeiner Breitenwir- kung unter den Gelehrten der historischen Richtungen. Da kam vers tänd- licherweise kein Zweifel auf, ob neugotisches Schaffen Kunstwert besäße, ob so etwas legitim sei. Man hatte auch keinen Blick für den reizvollen Kon- trast, mit dem sich gotisd1e Architektur und barocke I1111enei11richtung gegen- seitig hervorheben köm1en. Man übersah auch, daß neugotische Überarbei- tung alter Gotik das Alte zu dem Grad aufzuheben vermag, wo das Ursprüng- liche dem flüchtigen Betrachter nicht mehr ins Auge fallen wird. Musterbei- spiel dafür sind etwa die Stadtpfarrkirche und die mit ihr räuml ich verbun- dene Wallseerkapelle in Enns. Wenn wir aber das vorhin zitierte Rankewort wieder aufgreifen, so muß man doch den historisierenden Richtungen des 19. Jahrhunderts mehr Beach- hmg wünschen, als dies etwa im Dehio-Handbuch (Oberösterreich, 4 1959, S. 328) im Falle der Steyrer Stadtpfarrkirche geschehen ist, wo der Gegen- stand der vorliegenden Arbeit mit kurzen Worten und ungenügenden Jahres- zahlen gestreift wird: ,,Neugot . Altäre, Kanzel und Pfeilerstatuen (aus der Zeit der Regotisierung des Inneren, 1854-1857)". Übrigens entsprach die Stadtpfarrkirche mit ihren Netzrippengewölben, mit ihrem eher statisch-breiten als hochstrebenden Raumeindmck und ver- schiedenen anderen spätgotischen Eigenheiten nicht eben der neugotisd1en Sehnsucht nad1 „echten", reinen, möglichst „gotischen" Formen. Dennoch entdeckte man sie in den 1850er-Jahren und hat sie a ls erste große ober- österreichisd1e Kirche gründlich regotisiert. 2. DER HOCHALTAR UND DlE ERSTE REGOTJSIERUNGS- PERIODE 1857-1865 ,,Mit dem frommen Zweck der Unterthanentreue eng verknüpft", mel- dete 1860 der noch katholische Steyrer „Alpen-Bothe" , 7 „regte sich vor weni- gen Jahren im Herzen der Räthe unserer Stadt der ed le Sinn, im Geiste 7

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