85. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1967/68

uns heute unecht vorkommenden Empfindungswelt von damals? Oder liegt es an jener engen, beschränkten Klasseninteressen dienenden Schalheit des Liberalismus, der schon zu Beginn dieses Jahrhunderts hierzulande seinem geistigen und nach 1918 noch mehr seinem soziologischen Ruin zusteuerte? 4 Ebenso fern steht uns heute zumeist der ebenso wenig letztgültig verankerte, noch dazu fatal historisierende Deutschnationalismus, dessen Empfindungs- und Erlebniswelt (die sich zum Teil auch mit der Neugotik identifizierte) uns nur zu kühler, vielleicht historisch inte-ressierter Stellungnahme bewegen kann. Die Abneigung gegen die „Gründerzeit" , gegen die Epoche des Libe- ralismus und der durch soziale Konventionen geschützten gutbürgerlichen historisierenden Stilrid1tungen des Neo-Pseudo, des „permanenten architek- tonischen Karnevals" wird uns weiter vertieft durch die Oberflächlichkeit der religiösen Erbauui1g jener Zeit, insoweit sie sich in frommen Kunstwerken sichtbaren Ausdruck versd1affte. Seit der Aufklärung klafften Wissenschaft und Theologie einerseits und künstlerisdi-gegenständliche Darstellung von Glaubensaussagen andererseits genügend auseinander. Daran erweist sich aber der Charakter des 19. Jahr- hunderts als eines Jahrhunderts des Überganges, grob gesprochen, von der allseitig abgerundeten Epoche des Barock/Rokoko in eine ungewisse Zukunft. Und eben diese doch profilierte Übergangszeit steht uns genau so fern, ja noch distanzierter, als weit ältere Epochen der Geschichte. Es ist das alte Spiel der Opposition einer „radikal neuen" Epodie zu der ihr vorhergehenden. So war es schon zwischen Spätgotik und Renaissance, Spätbarock/Rokoko und Aufklärung, Spätjosephinismus und kird1licher Restauration, 5 den nachah- menden Baustilen und ihrer Zeit einerseits und Jugendstil und Modeme andererseits. Mit jedem geistig-künstlerischen Wandel Hand in Hand geht ein verändertes Lebensgefühl, das sich oft in Protest zum Lebensgefühl der vorhergehenden Epoche ventiliert. Das 19. Jahrhundert war wie das vorhergehende, vorab dessen zweite Hälfte, ein Jahrhundert der empfindsamen Seelen. 6 Zugleidi war es aber be- herrsd1t vom Rationalismus, besonders dessen vulgärer Ausprägung im Bündel weltanschaulicher Gedanken des Liberalismus. Diese politisch-geistige Richtung ist übrigens in Steyr um die Mitte der 1860er-Jahre zur Herrschaft in der Gemeindestube gelangt und konnte sie bis 1911 behaupten, als die in manchem weltanschaulich nicht allzuweit entfernten Deutschnationalen die Zügel übernahmen, welche diese auf Grund eines beschränkten Wahlrechtes bis 1919 behaupteten. Die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts im josephinischen Österreich hatten neben der Ablehnung de,r volkstümlichen barocken Fröm- migkeitsfo1111en auch die Art verstoßen, wie die vorhergehende Zeit theolo- gisch dachte. Das Religiöse wurde unter staatlicher Förderung und Protektion weitgehend aufgeweicht zu einem bloßen Moralsystem zur Erziehun.g folg- samer Staatsbürger. Die kirchliche Restauration, welche nun im frühen 19. Jahrhundert, ausgehend besonders vom süddeutsdien Raum, mäditig emporwudis, stand auch unter dem Eindruck der Notwendigkeit, nach Jahr- zehnten spärlicher Kird1enkunst neues Kunstschaffen in den Diemt der kirch- lichen Erneuerung zu stellen. Den Blick hatte man dabei nach rückwärts ins Mittelalter gewendet. Die romantisierende Brille, mit der man das neuent- deckte Mittelalter und überhaupt die graue Vorzeit betraditete, sowie das 6

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