83. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1965/66

Als ich vor einigen Wochen in die Chorprobe ging, traf idi am Stadt platz eine Gruppe von englischen Touristen. Sie haben kein Deutsch gespro chen und etwas verloren ausgeschaut. So habe ich sie englisch gefragt, ob ich ihnen behilflich sein könne. Wir haben ein bißchen geplaudert, und ich habe ihnen einige Sehenswürdigkeiten von Steyr gezeigt. Als ich mich mit „Good bye" verabschiedete, sagte einer der Engländer zu mir: „Wissen Sie, Fräulein, für eine Österreicherin sprechen Sie ganz gut Englisch." Mit einem kleinen Lächeln habe ich ihnen erklärt, daß ich keine Österreicherin, sondern Ameri kanerin bin. Aber sie glaubten mir nicht ganz . . . Na ja, vielleicht war auch meine Antwort nicht ganz richtig. Ich glaube, daß ich in diesem Jahr durch die Schule und den familiären Kontakt „Halbösterreieherin" geworden bin. Auf jeden Fall habe ich Österreich als mein zweites Heimatland ganz fest in mein Herz eingeschlossen und werde es so mit nach Amerika nehmen! DAS AMERIKANISCHE SCHULSYSTEM Das amerikanische Schulsystem ist von dem Europas verschieden, haupt sächlich weil es in den Vereinigten Staaten nicht von einem „Bundesministe rium für Unterricht" kontrolliert wird. Unsere Bundesverfassung, die soge nannte „Constitution" besagt, daß die Organisation des Unterrichtes Sache der Regierung jedes einzelnen Staates ist. Ein Bundesbüro für Unterridit gibt die gesammelten Schulprogramme der 50 Staaten jedes Jahr heraus, sodaß die Staaten jedes Jahr ihre Ideen und Methoden vergleichen und austauschen können. Die einzelnen Staaten sind daran interessiert, ihre Systeme einander anzugleichen, damit der Lehrplan möglichst einheitlich wird; denn die ameri kanischen Familien wechseln ihren Wohnort sehr oft und ziehen auch oft in einen anderen Bundesstaat. Daher sorgt der Staat dafür, daß die Kinder sol cher Familien ohne allzu große Schwierigkeiten von einer Schule in die andere übertreten können, wenn diese auch 5000 km entfernt ist. Ein zweiter Grund ist der, daß die Mehrzahl der Absolventen einer Mittelschule eine Universität besucht, die oft in einem anderen Staate liegt. Auch aus diesem Grunde ist es notwendig, daß alle Mittelschüler eine gleidiwertige Ausbildung erhalten. Daher sind Lehrstoff und Schulsystem in den einzelnen Staaten einander ziemlich ähnlich, und wenn man vom Schulsystem eines Staates erzählt (ich berichte hier zum Beispiel über meinen Heimatstaat New York), wird sich ein ziemlich allgemeines Bild aller amerikanischen Schulen ergeben. Im Staate New York müssen alle Kinder, ohne Ausnahme, zwischen ihrem 5. und 16. Lebensjahr eine Schule besuchen. Der erste Jahrgang in der „Elementary Sdiool", die das Kind ab dem 5. Lebensjahr besucht, heißt „Kin dergarten". In diesem Jahr soll sich das Kind daran gewöhnen, ohne seine Eltern weg von zu Hause zu sein und mit anderen Kindern seines Alters zu spielen und zu arbeiten. Der Schultag dauert nur von 9 bis 12 Uhr, in dieser Zeit lernt das Kind malen, Geschichten und Musik anzuhören, singen, even tuell auch lesen und schreiben. Ziel dieses ersten Jahres ist es, die Geisteshal tung des Kindes in Richtung auf die Schule hin zu entwickeln. Der Lehrer hat die Möglichkeit, jedes Kind zu beobachten und kennenzulernen. Dadurch kann er das Kind mit anderen Kindern von etwa gleicher Lemgeschwindigkeit in die erste Klasse aufsteigen lassen.

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