80. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1962/63

PSYCHOLOGISCHES DENKEN IM PRINZIP Wir haben gesehen, daß der naive Mensch einen ursächlid1en Zusammenhang zwischen dem Versagen eines Mädchens an der Universität und der ,,natürlichen Ungeistigkeit des Weibes" erkennt. Das erweist sich als ebenso falsch wie der Aberglaube des „Wilden", die beleidigten Dämonen hätten die Frau getötet. In beiden Fällen sind die angegebenen Ursachen nur in der Überzeugung der Menschen und nicht aus sich selbst heraus wirksam. Ist es aber damit getan, solchen Aberglauben als falsch zu bezeichnen, einfach, weil er unserer o'bjektiven Einsicht nicht standhält? - Wir wollen uns an dem nachstehenden Beispiel überzeugen, daß ein solcher Standpunkt nur im Rahmen eines geistigen Konzeptes möglich ist, das sich im korrekten Lebenszusammenhang nicht halten könnte. (5) Anordnung ;/...____\_~_ .! \ a / b \ Die beiden Strecken a und b sind gleich lang, davon kann man sich durd1 Nachmessen überzeugen. In der vorliegenden Anordnung erscheinen sie als verschieden lang. Die einzelnen Wahrnehmungselemente (d. i. die einzelnen Linien) beeinflussen die Wahrnehmung des „Ganzen". - Ich lasse nun die beiden Winkel weg: Anordnung 2 a b Die beiden Strecken erscheinen nun aud1 als gleichlang. Es steht nun allerdings nicht in unserer Madlt, in jedem Fall eine Anordnung herzustellen, daß der Wahrnehmungseindruck mit dem Ergebnis des Nad1111essens übereinstimmt und damit sinnenfällig zu beweisen, daß der Wahrnehmungseindruck von dem gleichen, unveränderten Sachverhalt in anderer Anordnung eben falsch war. Wir können aber in den meisten Fällen den Wahrnehmungseindruck mit dem objektiven (z. B. meßbaren) Sachverhalt vergleichen. Das ist hier entscheidend, denn es wäre ein Mißgriff, wollte man bloß das Ergebnis der Messung ernst nehmen und den davon abweidlenden Wahrnehmungseindruck einfach als Irrtum beiseite liegen lassen: man ginge damit an der Wirklichkeit des Seelischen vorbei. Die Abweichungen vom objektiven Sadlvcrhalt müssen vielmehr als Eigenart des Seelisdlen aufgefaßt werden; deshalb besdläftigen den Psyd1ologen solche Irrtümer: die Systematik aller dieser Irrtümer ist Psychologie. Unser Streckenbeispiel erlaubt uns noch eine andere Beobachtung, welche die Wirklichkeit jener Irrtümer, die wir als das Seelische bezeidmen wollen, eindrucksvoll demonstriert: die linke Strecke a in Anordnung J erscheint auch dann noch als kürzer, wenn man sich durch Nachmessen überzeugt hat, daß sie ebenso lange ist wie die andere. Diese Reobad1tung zeigt uns. daß wir in unserer secli45

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