80. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1962/63

man den oben angeführten Rechtssophismus auf alle Grundsätze, die eine Gesellschaft haben kann, indem man die gegenseitige Achtung, Rangunterschiede zwischen Menschen, alle Sitten und Gepflogenheiten einbezieht, dann gewinnt man eine Vorstellung vom „Sittenverfall". In einem solchen Zustand wird die Moral auf eine Basis gestellt, die selbst nichts mit Forderungen zu tun hat, sondern mit Gegebenheiten, die jedermann erwünsd1t sind wie das „Glück" und die „Gesundheit". Das Lustprinzip etabliert sich als Folge des Verlustes der Verankerung in der „Weltseite". An ihrer Stelle bieten sich Annehmlichkeiten aller Art als Verankerungen auf der Ich-Seite des Daseins an. All5 ,. was gut i s t, soll mir gefallen" wird „was mir gefällt, ist gut". Unter dem Gesichtspunkt des Lustprinzips versuqt man heute die Wissenschaften zu engagieren; man erhofft sidi irgendweld1e Einsichten, die einem helfen glücklid1 zu werden und gesund zu bleiben. Man glaubt dann, auf wissenschaftlich begründet,: Art zu lc'ben. Die wisse11sd1aftliche Autorität wird so gewissermaßen zum Nachfahren der Autorität der Dämonen. fa ist ungewiß, ob wir auch heute noch nid1ts Produktives mit der sophistisd1en Betraclitungsweise anzufangen wissen. Man beobachtet, daß man heute bei dergleichen „wertzersetzenden" Strömungen Schutz vor der verhängnisvollen Bereitschaft zur Ideologie sud1t. Man verhindert. daß ein ld1-Verhältnis, etwa der Judenhaß, im Gegenständlichen objektiviert wird, wo er dann als Rassentheorie wieder aufgelesen werden könnte, oder man führt eine solche Theorie auf ihr Ich-Verhältnis zurück. Die Strategie spekulint damit. daß wir subjektiv = falsch ~etzen. Wären wir in allen Problemen von Belang genügend „sophisticated", so wäre unsere Entscheidungskraft erheblich herabgesetzt. Wir würden Ideologien und Rassentheorien gegenüber in abwartend-unentschiedener Haltung verbleiben. Gerade das wird bezweckt. Ein Volk, das „wie ein Mann zu seinem Führer steht", wollen wir aus uns selbst nicht mehr mad1en. - Dieses Raffinement in der Kontrolle der Objektivationsmechanismen wurde die Geisteshaltung der „skeptischen Generation'· (4), wie man die Nachkriegsjugend bezeichnete. Wir haben bisher erläutert, daß die anthropozentrische Wendung bzw. d.ie Psychologie sich einstellen, wenn Normen zerfallen, die Bodenlosigkeit des bisher Selbstverständlid1en bewußt wird und der Mensd1 sid1 als Arrangeur „absoluter Wahrheiten" durchsdiaut, und ha'ben jetzt weiter zu fragen, wieso es überhaupt zu einem solchen Verfall und Zusammenbrucli kommen kann. Auf diese Frage wird sich wohl kaum eine einheitliche Antwort finden lassen, soferne man nämlich nicht allzuviel an ideengeschid1tlicher Spekulation investieren will. Einen kleinen Beitrag kann man zunächst aber einmal leisten, wenn man sich die Soziologie jener Orte bzw. Menschen näher ansieht, aus denen das psyd1ologisd1e Denken der Neuzeit hervorgegangen ist. Nach allem, was sich bisher über die Gesdüchte der neueren Psychologie in Erfahrung hat bringen lassen, kommen dafür Wien, die Vereinigten Staaten und die Juden in Betracht. Diese Zusammenstellung ist zunächst überraschend, die Gemeinsamkeit, auf die es hier wohl ankommt, läßt sicli unsd1wer angeben: das Völkergemisch der Donaumonard1ie und der Vereinigten Staaten sowie die jiidische Diaspora konfrontierten Menschen. die in einer mehr oder weniger eng umschriebenen Kultur aufgewachsen sind, mit anderen Kulturen, ·H

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