79. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1961/62
den von Riesen geschleudert, das Licht- und Schattenspiel der Wände zau- berte ihnen Hexen vor, und so staunten sie, waren ergriffen und schau- derten vor diesen Mächten - und fanden verhältnismäßig spät erst die Fähigkeit, dieses Urerlebnis, dieses Unnennbare in Wortbildern auszu- drücken - als Volkssagen. Dazu übernahmen sie die Volkssagen der Räto- romanen, wie etwa die Sagen von den Venediger Männchen, von den Blit- zen, vom Kasermandl, also von guten und bösen Geistern, die den Bauern u·nd Sennen schadeten oder nützten. Die Rätoromanen waren gestaltlich kleiner und im Aussehen dunkler als sie. Und sie zogen sich zum Teil in die Hochtäler, also näher an die unheimlichen Berggipfel zurück. Auch das wurde in Beziehung zur Na- tur gebracht. Und noch ein geschichtliches Geschehen hatten diese jungen, auf Besitz stolzen Bayern in sich zu verarbeiten: Das Schicksal der geschlagenen Go- ten, die sich als Restvolk in diesen Raum von Italien her zurückzogen. Diese hatten aus ihrem Stammesschicksal lichte Heldengestalten wie Theo- derich den Großen (Dietrich von Bern), seinen Waffenmeister Hildebrand und Odoaker (in der Sage Ermanarich, die Rabenschlacht, Raben = Ra- venna). Die im Besitz ihrer bodenkulturtechnischen Leistung selbstsicheren und stolzen Bayern sahen in diesen Gestalten nicht die großen Helden, sondern geschlagene, vor allem besitzlose Menschen und entkleideten sie also zum Teil ihres heldischen Nimbus. Verständlich, denn die Bayern hatten nie ein so schweres Schicksal wie andere Stämme gehabt, und es fehlte ihnen dadurch auch an Verständnis dafür. Sie sahen diese Helden- gestalten als tragisch in ihrem Schicksal an. Und so wurde aus Theoderich dem Großen ein glückloser Fürst, ein Heiinatvertriebener, der dreißig Jahre außer Landes sein mußte, eben die bayrische Umformung als Dietrich von Bern, und er wurde ihnen mehr und 1nehr zur mythischen Gestalt, die mit der Natur des Raumes in Beziehung gesetzt wu rde. Es ist somit nicht verwunderlich, daß sie ihn bald mit König Laurin in Verbindung brachten. Laurin · mit der Tarnkappe, wohl ein Durd1sichtbild zu Loki, verkörperte für sie'· aber die kleineren, dunkleren Rätoromanen als deren König und das Unheimliche der gefahrvollen und un ergründlichen Berge. Sie verleg- ten das Reich dieses Königs der Kleinen , der Zwerge, in den Rosen- garten, dessen Abendglühen ihnen nicht natürlich , sondern nur mythisch erklärbar war. Verwoben mit den kleineren Volkssagen der Rätoromanen sahen sie das Lichterspiel in den Wänden des Rosengartens und andere Naturersdieinungen als das Werk des Köni gs Laurin an, und damit ist auch die Beziehung mit dem lichten Dietrich von Bern hergestellt, der mit Laurin kämpft . Wie stark die Natur dieser Bergwelt Südtirols mit ihrer Wirkung auf seine Inwohner ist, wird wohl darin am deutlichsten, daß auch Siegfried als Held in diesen Raum versetzt wird. Die Epen, die etwa im 13. Jahrhundert im Raum Südtirol abQ'efaßt worden sind, zeugen davon: König Laurin, Dietrichs Flucht, Die Rabenschladit, Sigenot, das Eckenlied, Alpharts Tod, Gold emar und Königin Virginal. In Südtirol also - und das ist auch ohrie Walther von der Vogelweide, ohne Oswald von Wolkenstein und den Zöllner Hans Ried aus Bozen, den Schreiber des Ambraser Helden- buches, eine einzigartige große kulturelle Tat - ist Literatur geworden, was sonst nur von Spielleuten weitergetragen worden war und ohne die Lei- stung dieses Raumes wohl verloren gegangen wäre. 14
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