78. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1960/61

Der Ursprungsquell des Rätsels in seinem tiefsten Sinn ist die fragende Verwunderung des Menschen über die Welt und sich selbst. Sein Keim liegt demnach bei der Sonderung des menschlichen Tagesbewußtseins vom dump fen Bild-Erleben des Traumes in der Morgenröte der Verstandesbegabung Der selbständig werdende Menschengeist setzt sich mit seinen Erlebnissen auseinander und versucht sie zu deuten. Die Erschließung der in der Volks religion verborgenen Mysterienweisheiten, die Auslegung geheimnisvoller Opferriten und Runenzeichen, Propheten und Orakelsprüche weisen auf den kultisch-religiösen Mutterboden hin und stellen die Vorstufe des Rätselwe sens dar (vgl. „Das verschleierte Bild zu Sais"). Die häufige Wiederkehr von Rätselfragen in den alten Märchen und die Gewährung reicher Belohnungen für das Lösen oder schwerster Strafen, bis zum Tod, für das Versagen lassen erkennen, welch hohe Bedeutung die Volksseele diesem Tun zuschrieb. Vorstufen des Rätsels finden wir schon in der Urzeit der indogerma nischen Völker, z. B. in den Veden. Es sind Proben des Wissens und Scharf sinns, die durch Frage und Antwort zur Erklärung der Opfersymbolik bei tragen wollen, sozusagen „katechetische Fragen (R. Petsch), aber noch keine Rätsel in der heutigen Bedeutung des Wortes. Es sei in diesem Zusammen¬ hang auf die spätere Alexandersage des Pseudokallisthenes hingewiesen: Auf seinem Zug zum Ende der Welt, so wird da erzählt, trifft der große Eroberen die „Hymnosophisten“, die Weissen Indiens. Als diese erfuhren, daß Alexan der herannahe, sandten sie ihm die Botschaft: „Wenn du kommst, um uns zu bekriegen, so wirst du keinen Nutzen haben; denn das einzige, was wir besitzen, ist unsere Weisheit, und die kann uns niemand wegnehmen. Alexander erwiderte, er komme nicht in feindlicher Absicht. Er fand ihr Land reich an vielerlei Fruchtbäumen und Weinstöcken, die von herrlichen Trauben strotzten. Ein schöner Fluß mit durchsichtigem Wasser strömte hindurch. Die Luft war mild und lieblich. Das Volk wohnte unbekleidet im Freien. Die Weiber und Kinder iebten getrennt von den Männern auf der anderen Seite des Flusses. Alexander begrüßte die Weisen und prüfte sie durch mancherle Fragen. „Was ist stärker, fragte er sie, „der Tod oder das Leben?“ Sie sag¬ ten: „Das Leben, denn die Strahlen der Sonne sind stärker, wenn sie auf¬ geht, als wenn sie untergeht. „Sind die Lebenden zahlreicher oder die To ten?“ „Die Toten, denn das, was nicht ist, ist unermeßlich. „Was ist größer, die Erde oder das Meer?“ „Die Erde, denn das Meer wird selbst von der Erde getragen. „Was ist das schlimmste Geschöpf? „Der Mensch; denn schau auf dich selbst, wieviele Geschöpfe du bei dir hast, um alle anderen Geschöpfe des Lebens zu berauben. Alexander lachte und fragte weiter: „Was ist bes¬ ser, die rechte oder die linke Seite?" „Die rechte; denn rechts geht die Sonne auf und wendet sich dann erst zur linken Seite des Himmels. (Aus einer Abschrift nach Adolf Ausfeld, Die Sage vom großen König Alexander, siehe Angabe am Schluß.) In den Traumdeutungen des ägyptischen Josefs treten die beiden das spätere Rätselschaffen und lösen bedingenden Anlagen zuerst greifbar her¬ vor: die Sinnbilder schaffende Phantasie (hier als Traum-Atavismus) und der Beziehungen erfassende, deutende Verstand. Aber sie erscheinen noch als auf zwei Vertreter verschiedenen Volkstums verteilt. Die Geburtsstunde des Rätsels im engeren Sinn ist die Vereinigung der beiden Fähigkeiten im einzelnen Menschen. Diese Entwicklung kennzeichnet den Übergang vom mythischen zum Gegenstandsbewußtsein zu Beginn der

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