So legt der Dichter ein Rätsel, Künstlich mit Worten verschränkt, oft der Versammlung ins Ohr; Jeden freuet die seltne, der zierlichen Bilder Verknüpfung Aber noch fehlet das Wort, das die Bedeutung verwahrt. Ist es endlich entdeckt, dann heitert sich jedes Gemüt auf Und erblickt im Gedicht doppelt erfreulichen Sinn, Goethe Franz Brentano (1838 — 1917), der Wiener Philosoph und Neffe des Romantikers Clemens Brentano, ist eine Persönlichkeit von weitgespannten Interessen und reicher Begabung. Als origineller Seelenforscher und Verfas¬ ser der „Psychologie vom empirischen Standpunkt, als scharfsinniger Logi¬ ker und Aristoteles-Interpret wurde er Lehrer einer bedeutenden Generation von Denkern. Mit besonderer Liebenswürdigkeit, feinem Menschenverständ¬ nis und Natursinn begegnet er uns in der Sammlung reizvoller Rätseldich tungen, die unter dem Titel „Aenigmatias” 1878 erstmals erschien, seither vergrößert und wiederholt neu aufgelegt wurde (griechisch Aenigma= Rät¬ sel). Brentano sagt darüber in der Vorrede zur ersten Auflage, diese Rätsel seien „... recht eigentlich Erzeugnisse der Gelegenheit. Wiederholt fand ich mich in Kreisen, die sich mit solchen Spielen des Scharfsinns zu unterhalten liebten: und nur dem Wunsche, ihnen gefällig zu sein, verdanken meine Rät sel ihr Entstehen.“ (Aenigmatias, 4. Aufl., S. 7.) Trotz dieser seiner Eigen¬ schaft als Gelegenheitsproduktion darf das Rätselwerk Aufmerksamkeit und Interesse beanspruchen, nicht nur als fesselnder Ausdruck Brentanoschen Denkens, sondern vor allem als vor- und nachher kaum erreichter Höhe punkt in der Geschichte des kleinen Kunstwerks Rätsel. Der näheren Betrach¬ tung des Aenigmatias soll deshalb eine beschreibende Darstellung von We sen, Geschichte und Bedeutung jener literarischen Erscheinung vorausgeschickt sein. Vom Eintritt ins Tageslicht der Geschichte an finden wir das Rätsel dem Menschen als liebliches Geschöpf und treuen Begleiter auf dem geistigen Ent wicklungsweg verbunden. Durch viele Jahrhunderte fand es Pflege und erwies seine wohltätige Wirkung als Mittel geistiger Belebung und bildendes Ele¬ ment in der Gemeinschaft: jung und alt erbaute sich gern am wechselweisen Erfinden, Aufgeben und Lösen der anmutigen dichterischen Gebilde. Erst das Zeitalter zersetzender Mechanisierung und Atomisierung kreuzigte das Wort auch im Rätsel und schaffte mit dem Sinn für echtes Rätselwesen das heitere Gehaben immer mehr aus der Welt. So findet man in modernen Zeitschriften und Illustrierten Blättern so manche platten und sensationellen Trick- und Testfragen sowie Kreuzwort- und „Denksport-Aufgaben, aber nur noch sel¬ ten wirklich geistvolle und künstlerische Rätseldichtungen. (Eine solche echt poetische Sammlung aus den letzten Jahren stellt unseres Erachtens „Das Haus der hundert Rätsel“ von Arthur Fischer-Colbrie dar.)
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2