78. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1960/61

In der Einleitung zu einer Sammlung der schönsten deutschen Rätsel („Der Irrgarten", 1928, S. 17) präzisiert der Germanist und Rätselforscher Robert F. Arnold die beiden Aspekte des Rätsels folgendermaßen: „In der Doppelheit seiner Funktionen, in den wechselnden oder vereinigten For¬ derungen an Einbildungskraft und Scharfsinn liegt letzten Endes der eigen¬ tümliche Reiz der gesamten Gattung. Kraft ihrer Bildlichkeit gehört sie der Dichtung an, ganz abgesehen davon, daß ihre Erzeugnisse von alters her häufig Versgestalt angenommen haben; das logische Element aber, die Auf¬ zeigung eines (scheinbaren Widerspruches und dessen Beseitigung, die Lö¬ sung einer (scheinbaren) begrifflichen Verwirrung — das ist es, was jedem Rätsel den Charakter der Komik verleiht, mag diese nun in der Form des billigen Wortspieles sich offenbaren oder in der überraschenden, also witzigen Befriedigung gespannter Erwartung oder in humoristischer Auffassung des Alltagslebens und alltäglicher Objekte, oder gar in erhabener Ironie. Man darf wohl sagen: In der logischen Funktion der Rätselschöpfung bekundet sich die Verstandes, in der bildschaffenden die Gemütsseite des sich entwickelnden Seelengliedes. Diese findet dann im Mittelalter als Pa¬ rallele zur Herzenströmmigkeit der Epoche ihren bildenden Anteil im Rät¬ selreim und -lied des Volkes. Die Stoffe werden nunmehr zunächst fast ausschließlich der Bibel ent¬ lehnt. Erst allmählich gesellen sich mehr und mehr auch weltliche Motive hinzu und finden Eingang in die geistlichen Fragebüchlein. Ein fortschrei¬ tender Säkularisierungsprozeß, parallel dem Weg des philosophischen Denkens, ist zu beobachten. Dabei gibt es allerdings auch manche Abirrungen oder ins Ge¬ ins Schrullenhaft Spitzfindige scholastische Haarspalterei heimnisvoll-Mystifizierende. Es wird z. B. die Frage gestellt: „Warum sagt der Herr zu Petrus: Stecke dein Schwert in die Scheide!?“ und darauf zur Antwort gegeben: „Das Schwert ist der Geist, der verborgen wird.“ In Al¬ kuins Fragebüchlein „Disputatio, heißt es: Wer ist erschaffen, aber nicht geboren? Adam. — Wer ist einmal geboren und zweimal gestorben? Lazarus. Die Doppelsin- Wer ist zweimal geboren und einmal gestorben? Jonas. nigkeit des Ausdrucks „geboren“ soll den Hörer irreführen. Auch Streitge spräche entstehen (vgl. den Wartburgkrieg), Wettlieder, gelehrte Spielereien: das Rätselgedicht wird stark unanschaulich und gekünstelt. Diese Entwick lung führt dann zur Kulmination im barocken Schwulst des 17., beziehungs weise 18. Jahrhunderts. Seit dem Beginn der Neuzeit kommt es zur Veranstaltung von größeren Sammlungen, sowie zur Schaffung neuer rhythmischer und strophischer For men, Gewinnung neuer Darstellungs- und Ausdrucksmittel. Dem differenzier¬ teren Seelenwesen des modernen Menschen entsprechend, wird die wissen¬ schaftliche Theorie des Rätsels begründet und dieses selbst nach verschiede nen Richtungen hin weitergebildet, analog der Vielgestaltigkeit der neueren philosophischen Selbstbewußtseinstheorie. Durch Ausbildung neuer Arten des Bilder, Wort- und Silbenrätsels wird die Gattung wesentlich bereichert. Zu¬ erst tritt auf neuer Stufe nochmals die Polarität hervor zwischen dem intel¬ lektuelleren Charakter der Aufklärung und dem Vorwalten des Gemüthaften in der romantischen Strömung. Sie erlangen ihre Synthese im Rätselwerk der Klassiker, in den Meistergaben Goethes, Schillers und anderer. Kaum ein deutscher Poet oder Philosoph dieser Zeit, der sich nicht mit Fleiß und Ge¬ schick auf diesem Gebiet versucht hätte; und manche Perle entstand. Die

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