70. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1952/53

DER KNABE VON NEBENAN Zu meiner Verwunderung legte Andreas plötzlich die Zeitung aus der Hand — wir hatten uns in einem netten Kaffeehaus bei einem guten Mokka eine gemütliche Lesestunde gegönnt — und murmelte mit dem Ausdruck unverkennbarer Erregung: „Gotthold Lain... Lain, der Name kommt mir so bekannt vor... Gotthold, das war doch der Knabe von nebenan. Natürlich." Er reichte mir das Blatt über den Tisch und ich las eine kurze Notiz, die besagte, daß ein Mann namens Gotthold Lain wegen eines Raufüberfalles zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Was Andreas an dieser Nachricht so seltsam berührte, wollte ich hören, ob er den Verbrecher etwa kenne oder um die verwerfliche Tat wisse, die nun zweifellos eine gerechte Bestrafung gefunden hatte. Wir zahlten und verließen früher als ursprünglich beabsichtigt das Lokal. Mein Freund verlangte nach der Stille eines Parkes, wo er mir etwas zu erzählen versprach, was für ihn gleichsam ein Ge ständnis werden sollte. Nach längerem Schweigen, das ich durch keine Frage zu stören wagte, hub er endlich zu sprechen an: „Er begleitete schon damals wie ein ständiger Schatten meine glückliche und wohlbehütete Kindheit, jener Knabe von nebenan, der mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in einem ärmlichen Haus neben unserer Villa wohnte. Gotthold hieß er. Gotthold Lain, daran erinnere ich mich noch genau, denn wir Kinder wunderten uns sehr, daß er nicht den Namen seiner Eltern trug, welche Gruber hießen, daß auf seinen Schulheften nicht Gruber stand, und daß ihn der Lehrer Lain rief. Bald nannten auch wir alle ihn so, als fänden wir den freundlichen Namen Gotthold ganz und gar nicht passend zu seinem ungepflegten Äusseren und zu seinem verschlos senen, manchmal verschlagenen Wesen. Später freilich erfuhren wir, daß er als uneheliches Kind den Mädchennamen seiner Mutter führte, die eine strenge, harte Frau war und dem Knaben mehr Schläge als gute Worte gab. Gottholds Stiefvater war ein ältlicher Trinker, dessen Einfluß auf den Jungen gewiß nicht günstig war. Ich entsinne mich noch heute sehr deutlich des Verbotes meiner Eltern, mit Gotthold zu sprechen oder ihn gar in unseren Garten mitzunehmen. Manchmal tat er mir leid, wenn ich ihn wie ein kleines wildes Tier am Gitter unseres Zaunes hängen sah, mit sehnsüchtigen Blikken unser Treiben verfolgend, von welchem er durch ein grau sames und von ihm unverschuldetes Schicksal ausgeschlossen war. Einmal schenkte ich ihm heimlich einen alten Ball, den er hastig, ja fast gierig, als hätte er Hunger darnach, an sich riß. ohne dafür zu danken. Denn das Wort „Danke" kannte man bei ihm daheim 13

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