64. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1946/47
schließlich der Chemieunterricht auch für die künftigen Angehörigen an¬ derer Berufe praktisch Verwertbares bieten? Es ist üblich geworden, den Bildungswert der naturwissenschaft¬ lichen Fächer vor allem in der Schulung der Beobachtungsgabe und des induktiven Denkens zu suchen und hierin der Chemie neben den stärker betonten Fächern Physik und Naturgeschichte ihren Platz einzuräumen. Im übrigen aber betrachtete man die Chemie lange und betrachtet sie in weiten Kreisen heute noch als ein Spezialwissen, als eine Anhäufung von Tatsachenerkenntnissen, die nur den Fachmann interessieren und mit allgemeiner Bildung nichts zu tun haben. Dies geht zum Großteil dar¬ auf zurück, daß bei der zwangsläufig starken Betonung des Experiments im Chemieunterricht vom durchschnittlichen Schüler sehr häufig nur die einzelnen Versuche und ihre Tatsachenergebnisse aufgefaßt werden, wäh¬ rend ihm die innere Folgerichtigkeit und Zielstrebigkeit in diesem Sy¬ stem von Versuchen, also sozusagen die verbindende Linie, verborgen bleibt. Haften bleibt dann also eine gewisse Fülle von Einzeltatsachen, mit denen der Absolvent nichts anzufangen weiß, soferne er nicht Che¬ miker wird; denn er kann sie unter solchen Umständen weder mit seinem sonstigen Wissensschatz, noch mit seinem täglichen Erleben oder seiner Berufsarbeit so richtig verknüpfen. Die darin ohne Zweifel liegende Ge¬ fahr für den Erfolg des Chemieunterrichtes wird noch verschärft, wenn ich aus Zeitmangel der Unterricht mehr oder minder auf die experimen¬ telle Bestätigung sogenannter Grundtatsachen und Grundreaktionen kon¬ zentriert, die zwar für den Chemiker Ansatzpunkte für viele wissenschaft¬ liche und praktische Anwendungen und daher ungemein wichtig sind, vom Schüler aber in dieser Richtung nicht weiterverarbeitet werden kön¬ nen. Es würde damit ein Fundament gelegt, auf dem von der Mehr¬ zahl der Schüler nie mehr weitergebaut wird! Der einzige bleibende Er¬ folg wäre dann tatsächlich nur eine Schärfung der Beobachtungsgabe. Hat z. B. ein Schüler, dessen chemische Ausbildung mit der Schule ab¬ schließt, nur behalten, daß Stickstoff und Wasserstoff unter Bildung von Ammoniak reagieren können, ohne daß ihm die ungeheure Bedeutung dieser Reaktion durch Wort und Bild nachdrücklichst zum lebendigen Wissen gemacht gemacht wurde, so bedeutet das bloße Wissen um die „Grundreaktion“ allein für ihn eben nur einen toten unbrauchbaren Wissensballast. Und für den künftigen Chemiker ist diese Art von Grundtatsachenwissen viel zu eng begrenzt. Ihm tritt dann an der Hochschule in der wissenschaftlichen Behandlung der Chemie eine verblüffend neue Welt entgegen, in der er sich durch ein Stückwerk¬ wissen der beschriebenen Art kaum viel rascher oder leichter zurechtfindet. Die Folgerungen aus dem Gesagten werden später eingehend be¬ handelt werden. Hier sollte zunächst nur eine der Ursachen für die Ent¬ stehung einer schiesen Beurteilung des Wertes der Chemie als Unter¬ richtsgegenstand in weiten Kreisen der Oeffentlichkeit aufgedeckt werden. Uebrigens hat ja auch der Physikunterricht vielfach gegen den Grund¬ tatsachen= und Formelkult mancher Schüler anzukämpfen: aber hier ist doch der Anschluß an die tägliche Erfahrung lebendiger und schützt auch 5
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