64. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1946/47

9 geistigen Verarbeitung empfangen; er wird erkennen, wie aus dem ge¬ sicherten Erfahrungswissen Theorien und Hypothesen hervorwachsen, wird dazu angehalten werden, deren Erkenntniswert richtig einzu¬ chätzen, wird sehen, welche Rolle sogenannte „Arbeitshypothesen“ spie¬ len, wie die Theorie die weitere empirische Forschung richtungweisend befruchtet u. dgl. Kurz, er wird einen Einblick in das naturwissenschaft¬ liche Denken und damit in die Arbeitsmethode und die Erkenntnisgrund¬ lagen eines wesentlichen Bezirkes menschlichen Geistesschaffens erlan¬ gen. Man kann ja heute längst nicht mehr das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und „Geisteswissenschaften“ so sehen, als ob die Naturwissenschaften in der Erforschung des Wahrnehmbaren, Materiel¬ len nur den materiellen Menschheitsbedürfnissen sowie einer mehr oder minder äußerlichen Tatsachenerkenntnis dienten, während die eigentlich geistige Menschheitsleistung in tieferem Sinn den Geisteswissenschaften zukomme. Diese Auffassung mag eine gewisse Berechtigung in früherer Zeit gehabt haben, als die Naturwissenschaften ausschließlicher mit dem Sammeln ihres Tatsachenbestandes beschäftigt waren. Heute ist es jedoch so, daß die Naturwissenschaften in der Auswertung ihrer Ergebnisse Bereiche betreten haben, die mit zu dem Weitreichendsten und Schärfsten gehören, was Menschengeist je gedacht hat. Und umgekehrt liefern die Naturwissenschaften dem sinnenden Menschengeist eine vertiefte Erkennt¬ nis der Gegebenheiten und Voraussetzungen, von denen er notwendiger¬ weise ausgehen und auf die er sich beziehen muß. Wenn man sieht, mit welcher Wertschätzung namhafte Vertreter der heutigen Philosophie (und keineswegs einer materialistischen Philosophie!) sich der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft bedienen und sie geradezu zur Grundlage ihrer Ueberlegungen machen, wird man sich klar werden, daß die Stel¬ lung der Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften nicht mehr einfach durch den Gegensatz „Materie“ und „Geist“ umschrieben werden kann. Es gibt heute keine in bloß äußerlich=materieller Tatsachenschau verhaftete Naturwissenschaft mehr. der die tiefere Geistesschau auf der anderen Seite gegenüberstünde. Es gibt nur einen menschlichen Geist, der von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend und auf verschiedenen (sich vielfach berührenden und ineinanderfließenden) Wegen nach Er¬ kenntnis ringt. Daher gehört es auch ganz wesentlich zur Anbahnung einer geistigen Gesamtschau im allgemeinbildenden Unterricht, daß dabei die naturwissenschaftliche Komponente des Denkens ihrer Bedeutung entsprechend harmonisch zur Geltung kommt, daß aber auch der Unter¬ richt in den Naturwissenschaften und damit auch in der Chemie so ge¬ führt wird, daß er sich in eine solche Gesamtschau einordnet. Auch in praktischer Hinsicht erscheint es übrigens mit Rücksicht auf der die künftigen Studierenden der Naturwissenschaften und namentlich Chemie geboten, frühzeitig mit der Anbahnung des Verständnisses der physikalisch=chemischen Betrachtungsweise zu beginnen. Der Uebergang zur hochschulmäßigen Behandlung der Chemie wird so weniger schroff. Ueber manchen Mangel an Detailwissen, das bei der knappen Stunden¬ zahl nicht geboten werden konnte, wird sich der junge Student leicht

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