64. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1946/47

8 schen Reaktionen bestimmten und empirisch aus diesen gefolgert wurden. Nun aber hatte man diese Grenze, die so recht die „Inselhaftigkeit“ der Chemie bedingte, überschritten: Elektronen und Atomkerne sowie deren Bestandteile begrenzen nunmehr den Gesichtskreis, für deren Verhalten physikalische Gesetze maßgebend sind. Anders ausgedrückt: während die Thermodynamik phänomenologisch Wechselbeziehungen zwischen chemi¬ ich schen und physikalischen Vorgängen erforschte, deren Kenntnis dies namentlich auch in praktischer Hinsicht als äußerst fruchtbar erwies, aber in bewußtem Verzicht auf die Frage nach dem „Warum tat, zu¬ führte nunmehr die Atomistik die beiden Wissenschaften vollends ammen. Die chemischen Vorgänge wurden auf physikalische Vorgänge spe¬ im Bereich der Atome und ihrer Bestandteile zurückgeführt, eigene auf. zifisch chemische Kräfte hörten in der Vorstellungswelt zu existieren In der Folge mußte auch die alte Vorstellung von der Unwandelbarkeit der Elemente revidiert werden. Der alte Alchimistentraum von der Um¬ wandlung der Elemente ging in Erfüllung. Das periodische System der Elemente erfuhr eine tiefere Deutung; namentlich in der anorganischen Chemie erscheint dadurch nun sehr vieles, was früher einfach als Tat¬ ache hingenommen werden mußte, als notwendige Konsequenz allge¬ meiner Betrachtungen. Nachdem diese Betrachtungsweise namentlich in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend ausgebaut und daher auch das periodische System in moderner Beleuchtung z. B. von Remy und Jander zur Grundlage einer systematischen Behandlung der anorgani¬ schen Chemie gemacht wurde, sollte auch der Schulunterricht daran nicht mehr vorbeigehen. Manches lästige und unnütze Gedächtnistraining würde dadurch für den Schüler durch Ueberlegungen ersetzt werden können, die für ihn von bleibendem Wert sein könnten. Bieten sie ihm doch ein Stück modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes! Schließlich brachte in den letzten Jahren das Studium der inner¬ atomaren Energien und der Energieumsetzungen bei Atomumwandlun¬ gen Erkenntnisse, die eben nun in das Stadium der praktischen Anwend¬ barkeit eingetreten sind und Perspektiven eröffnen, die in ihren prak¬ tischen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind. Das Vorstehende erhebt nicht Anspruch darauf, etwa eine Geschichte der Chemie im Kleinformat zu sein. Es soll damit lediglich die Chemie von einer Seite gezeigt werden, von der sie das breitere Publikum nicht zu sehen gewohnt ist. Und es sollte gezeigt werden, was und wieviel die Chemie, so gesehen, dem jungen Menschen zur Grundlegung seines Welt¬ bildes zu bieten hat. Denn gerade dieses Zusammenspiel von Chemie und Physik führt ja zu einer Universalität der Naturbetrachtung, deren Grandiosität keinem geistig aufgeschlossenen Menschen vorenthalten werden sollte. Der Schüler wird überdies bei einer Behandlung der Chemie, die, vom experimentell Faßbaren ausgehend, auch Gedankengänge und Fol¬ gerungen der angeführten Art mit einbezieht, eine lebendige Vorstellung von der Eigenart des naturwissenschaftlichen Forschens und Denkens, von dem Zusammenspiel empirischer Erkenntnisgrundlagen mit ihrer

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