42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

4 I. Besprechung des „on“ Fast hundert Jahre später wurde der Richter Thomas Noon Talfourd durch die Lektüre der Griechen und durch die Erinnerung an die Aufführung griechischen Tragödien — als Knabe hatte er unter Anleitung seines Readinger Lehrers Doktor Valpy bei solchen Aufführungen selbst mitgewirkt — dazu angeregt, selbst Trauer¬ spiele dieser Art zu schreiben. Zuerst schrieb Talfourd einige Szenen des „Ion“ in Prosa, die er später in Blankverse umgoß, Ende 1834 war die Tragödie fertig und wurde im April 1835 für den engeren Freundeskreis des Verfassers gedruckt. Ein Neudruck folgte 1843, der auch die zwei nach dem „Ion“ verfaßten Schicksals¬ tragödien Talfourds enthielt, nämlich „The Athenian Captive“ und „Glence; or the Fate of the Macdonalds"; daran schlossen sich noch 14 Sonnette und zwei andere Gedichte; 1848 erschien die 9. Auflage der „Tragedies“. Zum letztenmal wurden sie 1865 in Boston gedruckt. Als Einzeldruck erschien Talfourds letztes Drama: „The Castilian", An Historical Tragedy, London, Moxon, 1853. „Ion“ wurde nach der ersten Aufführung im Covent Garden Theatre auch im Haymarket-Theatre und anderwärts gespielt. Die letzte Aufführung fand am 11. De¬ zember 1861 in Saddlers Wells statt. Von der zeitgenössischen Kritik wurde „Ion günstig beurteilt, so: The Quarterly Review, vol. 54, p. 563 m., The Gentleman's Magazine, vol. I, p. 505 ff, London 1836. The Northern British Review verhielt sich kühl, ohne jedoch die Vorzüge des Stückes zu verkennen. In der Vorrede zu „Ion“ entwickelt der Verfasser die Geschichte dieses Stückes, Infolge der übergroßen Angstlichkeit seiner Erzieher war es ihm in seiner Jugend nicht vergönnt, Shakespearedramen aufgeführt zu sehen oder wenigstens zu lesen. Hannah Mores „Sacred Dramas“ und Addisons „Cato“ waren die einzigen dramatischen Erzeugnisse, die dem jungen Talfourd zu Gesicht kamen. Trotzdem reichten diese schwachen Anregungen dazu hin, in ihm die Liebe zur dramatischen Dichtkunst zu wecken und zu festigen. Was „Ion“ betrifft, hat er sich keineswegs mit der Hoffnung geschmeichelt, daß sein Stück je zur Aufführung kommen würde. Erst der wider Erwarten günstige Erfolg hat ihn veranlaßt, das Drama dem Druck zu übergeben. Der Verfasser sucht nun darzulegen, welchen Zweck er mit der Veröffentlichung angestrebt und ferner will er denen danken, die sein Werk gefördert. Das Stück sei zwar im Hinblicke auf eine ideale Bühne geschrieben worden — ein Ziel, das selbst der bescheidenste Dramatiker nicht verkennen dürfe — doch habe er stark daran gezweifelt, ob er die erforderliche Bühnengerechtigkeit erzielt habe. Er kenne die formellen und stofflichen Mängel seines Stückes genau und im Bewußtsein dieser Schwäche habe er Fatum und Metaphysik zu Hilfe gerufen, um die einförmigen Charaktere seines romantischen Trauerspiels wirkungsvoller zu gestalten. Wenn er auch vom Zuschauer etwas größere Nachsicht verlangen zu müssen glaube, so hofft doch Talfourd dem Leser besser zu gefallen, weil dieser bei einzelnen ihm zusagenden Stellen länger verweilen und so für die Un¬ zulänglichkeiten in der Motivierung der Charaktere Ersatz finden kann. Die Veröffentlichung des vorliegenden Dramas befreit den Dichter von einer seelischen Last, die ihn seit längerer Zeit bedrückt. Da der Verfasser des öfteren durch die handelnden Personen seine eigenen Anschauungen, sein persönliches Empfinden zum Ausdruck bringt, so sollen seine Freunde „Ion“ als ein Geschenk betrachten, sie mögen darin Anklänge an gemeinsam verlebte Stunden, an ernste, gehaltvolle Gespräche wiederfinden. Aus Furcht, das Interesse für die Dichtung durch eine vorherige Veröffentlichung zu vermindern, war „Ion“ erst nach der Aufführung (26. Mai 1836) im Druck veröffentlicht worden und zwar war dies auf den Rat des Schauspielers Macready, seines Freundes geschehen, dessen Darstellungskunst er überhaupt den Erfolg verdanke. Wie bescheiden Talfourd

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