42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

Thomas Noon Talfourds Dramen. Von Dr. Martin Pawlik ..... Antikisierende Tragödien in England vor Talfourd. Der vorliegende Aufsatz handelt von den Dramen eines Mannes, der nicht nur als Dichter und Kritiker, sondern auch als Richter und Parlamentsmitglied im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts (1795 bis 1854) eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Sein „Ion“ gehört zu jenen Dramen der englischen Literatur, die als Nach¬ ahmung altgriechischer Schicksalstragödien gelten. Der klassische Einfluß kommt in dieser sowohl in der Entwickelung der dramatischen Handlung, die vom Walten des Fatums abhängig gemacht wird, als auch in Form und Inhalt zum Ausdruck. In Bezug auf diese beiden letztgenannten Punkte möchte ich auf die Renaissance¬ Tragödien hinweisen, die zwar nicht ihrer Hauptidee nach, aber in Form und Inhalt die griechischen Tragödien zum Muster haben. „Gorboduc“, das erste regelrechte englische Trauerspiel, fußt dem Inhalt und Aufbau nach auf Senecas „Thebais“. Jeder Akt schließt mit einem Chorus, Mordtaten werden von Boten berichtet, statt daß sie zur Darstellung gelangen, und dieser griechischen Auffassung folgen auch die frühesten Dramatiker Englands. Der Einfluß der Renaissance geht aber nicht so weit, daß man die Stücke in die Einheiten von Zeit und Ort zwingt, wohl aber wird eine einheitliche Handlung in klassischer Form auf die Bühne gebracht. Auch die dramatischen Erzeugnisse der englischen Klassiker stehen unter dem Einfluß der Antike. So hat Shakespeare in vielen seiner Dramen Namen, Charaktere und Stoffe des klassischen Altertums verwendet. Vom Anfange bis zum Ende seiner Dichterlaufbahn zeigt er mehr oder weniger in allen seinen Werken reges Interesse für die Antike; wir finden da Zitate, Reminiscenzen oder Eigennamen, die darauf Bezug haben. Während und nach der Restaurationszeit ist Milton der einzige Dramatiker, in dessen Werken wir die klassische Bildung mit puritanischer Überzeugung in Einklang gebracht sehen. Der Form nach zeigt „Samson Agonistes“ den Einfluß von Aeschylos dramatischer Kunst. Nach der Restauration wurden die drei Einheiten ebenso pedantisch befolgt wie in Frankreich. Im Zeitalter des Pseudoklassizismus fanden Aufführungen von zum Teil umgearbeiteten altgriechischen Trauerspielen statt, so wurde Sophokles „Elektra“ von Lewis Theobald, dem bekannten Shakespeareforscher, herausgegeben, Edmund Smith (1672—1700) schrieb „Phaedra and Hippolitus“, wozu J. Addison und Matthew Prior den Prolog und Epilog verfaßten. Ein dritter Verfasser antikisierender Stücke und Herausgeber antiker Dramen ist William Whitehead (1715—1785), der eine Bearbeitung des Euripideischen „Ion“ unter dem Titel „Creusa, Queen of Athens“ vornahm.

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