42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

— 18 Die Handlung, deren knappe, klare Führung Talfourd im „Ion“ so gut ver¬ standen, ermüdet im „Athenian Captive“ manchmal durch die Breite; damit die Erkennungsszene zwischen Mutter und Sohn, die wir eigentlich naturgemäß in der zweiten Szene des dritten Aktes erwarten, möglichst hinausgeschoben werde, muß Ismene in der dritten Szene des vierten Aktes noch einmal auf die ihr angetane Schmach zu sprechen kommen. Dem Zuschauer oder Leser ist es zwar bei der leidenschaftlichen Nachfrage seitens Ismenens (III, 2) ziemlich klar, wer Thoas ist, doch wird das Interesse durch die Frage wach gehalten: wie wird sich Thoas zur Mordschuld verhalten, die er sozusagen unter hypnotischem Zwange auf sich geladen hat, deren Verantwortung er bei klarer Überlegung ablehnen muß? Hingegen ist es Talfourd nicht gelungen, den Inhalt des Dramas, den Konflikt, in welchem übertriebenes Rechtlichkeitsgefühl — oder vielmehr das Bestreben, einen Schicksalsspruch wahr zu machen — über kindliche Liebe die Oberhand gewinnt, uns menschlich nahe zu bringen. III. Glence; or, the Fate of the Macdonalds. „Das Verhängnis der Macdonalds,“ ein Trauerspiel in fünf Akten, versetzt uns an das Ende der schottischen Volkserhebung zugunsten Jakobs II. im Kampfe gegen Wilhelm von Oranien. Wenn Jakob, sich päpstlicher als der Papst selbst gebärdend, sein Supremat über die englische Kirche wider dieselbe gebrauchte, und die anglikani¬ schen und nicht anglikanischen Untertanen abwechselnd mit rücksichtsloser Willk verfolgte, so erscheint es begreiflich, daß Wilhelm III., sein Nachfolger, dessen Herrschaft über Schottland durch fortwährende Aufstände seitens der Katholiken in Frage gestellt wurde, bald nach seinem Regierungsantritt (Februar 1689) endlich zu den schärfsten Maßregeln griff, die auch ihre Wirkung nicht verfehlten. Alle Clanführer hatten sich unterworfen, nur Mac lan von Glencoe hielt sich trotzig fern, bis er es doch in letzter Stunde für geraten fand, nach Fort William zu gehen, um Eng¬ lands König Treue und Gehorsam zu schwören. I. Akt. Mac Ians Söhne Alaster und dessen älterer Bruder John harren in der Halle seiner Rückkehr. John weist seinen über die Demütigung des Vaters ungehaltenen Bruder zurecht und stellt ihm als leuchtendes Beispiel das geduldige Ausharren und die Gelassenheit vor, mit der ihr Vetter Halbert die geringschätzige Behandlung von seiten des Stammhäuptlings ertrage. Allerdings war ein außer¬ ordentliches Ereignis von Einfluß auf diese Charakterbildung: Halberts Vater, welcher zeitlebens mit seinem Bruder um die Würde eines Stammoberhauptes und das väterliche Erbe gestritten, war auf dem Sterbebette plötzlich nachgiebig geworden und hatte mit seinem Bruder Mac Ian einen Vertrag geschlossen, wonach Halbert einen alten Felsenturm als Behausung nebst einer halbverfallenen Kapelle und spärlichem Weideland erhielt. Als Halbert gegen diese Verkürzung aufbegehren wollte erzählt John weiter — sei plötzlich Moina, die sagenhafte Ahnfrau der Macdonalds, auf geheimnisvolle Weise erschienen und habe sich vernehmen lassen: „Halbert, obey! The hour which sees the rule Oer the Macdonalds of Glence shall bring Terror and death. Die Warnung verfehlte ihre Wirkung nicht und Halbert lebte seither zurück¬ gezogen; einen schwächeren Eindruck machte sie auf Halberts jüngeren Bruder Henry, der in die Welt hinauszog. Statt des erwarteten Mac lan tritt Halbert Macdonald in die Halle und berichtet, er habe seinen Oheim vor drei Tagen am Ufer des Loch Leven umherirren gesehen; er würdigte Halbert keines Wortes und

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2