42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

— 12 - verborgenen Türen, ist fast allen Schauerromanen eigen und gibt für viele den Namen und die Milienstimmung. Es bringt Einheit in die vielfach verworrene Handlung und wird gewissermaßen zu einem ihrer Hauptträger. — 12. Eine alte Handschrift dient gewöhnlich zur Einleitung. Auf Talfourds Tragödie finden die unter Punkt 1 —3 angeführten Merkmale Anwendung. Ion, die Hauptperson des Stückes, wächst zum Jüngling heran, bis er scheinbar durch einen Zufall als Königssohn erkannt wird. Bei Adrastus Geburt war ein geheimnisvoller Fluch vernommen worden. Erst kurz vor seinem Ende erfährt er, daß Ion sein totgeglaubter Sohn sei. Das Motiv der Ermordung naher Verwandter oder wenigstens solcher Mordanschläge ist wiederholt verwendet. Gegen Adrastus hegt man, allerdings unbegründeterweise, Verdacht, daß er seinen Bruder aus dem Weg geräumt. Adrastus Vater schickt gegen seinen Enkel Henkersknechte aus. Ion erhebt den Dolch gegen seinen Vater, dieselbe Mordwaffe (vgl. Punkt 10 der vor¬ stehenden Aufzählung) richtet Ion gegen sich, um den Schicksalsspruch zu erfüllen. Auch das Milieu, der mit Adrastus Burg durch einen geheimen Gang verbundene Tempel, ist der Schauerromantik eigen. In Whiteheads Stück kehren die nämlichen Wendungen (13) wieder, neu ist das Motiv des geheimnisvollen (väterlichen) Freundes (Nicander). Die enge Verwandt¬ schaft, ja Identität der in den beiden englischen Tragödien vorkommenden Motive erklärt sich aus dem gemeinsamen Vorbild, der antiken Tragödie, deren Merkmale die neuere, antikisierende Schicksalstragödie trägt. Während aber Whitehead diese Motive in der banalsten Weise ausnützt, darf Talfourds „Ion“ als ein glücklicher Versuch bezeichnet werden, das altklassische Trauerspiel zu neuem Leben zu erwecken. Auch weiß Talfourd das lokale Kolorit lebenswahr wiederzugeben, obwohl er die Gegenden nie gesehen. Daß sich sein Stück keines dauernden Erfolges erfreute, findet wohl darin seine Erklärung, daß die politische Seite des Dramas, welche stark betont ist — der Verzicht eines absolutistischen Alleinherrschers, worauf Ions Selbst¬ opferung hinausgeht — in weiteren Kreisen eines seit langem verfassungsrechtlich regierten Volkes keine besondere Anziehung ausüben konnte. Andrerseits ist Ion viel zu stark von romantischem Geist durchdrungen, und leidet an einer Ueberfülle figür¬ licher Ausdrucksweise, um den Forderungen eines kritischen Zuhörer- oder Leserkreises nach antiker Einfachheit der Form und des Aufbaues zu genügen. Immerhin ist Talfourd ein Klassiker unter den Dramatikern der Romantik zu nennen. „Ion“ erscheint als Reaktion gegen die eigentlichen Dramen der Schauerromantik, die mit Walter Scotts Drama „The House of Aspen“, 1830 veröffentlicht, und „Auchindrane“ (1829 verfaßt) wieder aufleben; ihre Schwäche liegt in der Verwendung des Gespenstischen (vgl. A. Petri. Über Walter Scotts Dramen, Progr. Schmölln 1910/11). II. The Athenian Captive. Die fünfaktige Tragödie „Der athenische Gefangene ist dem Lord Oberrichter Thomas Denman gewidmet. In der Vorrede führt der Verfasser aus, wie er durch den Erfolg des „Ion“ sowie durch Macreadys Zureden ermutigt, dem er auch den ersten Entwurf des Stückes vorgelegt hatte, dieses während der Weihnachtsferien (1837) geschrieben habe. Die Aufführung im Covent Garden-Theatre war infolge eines ungünstigen Zufalls im letzten Augenblick abgesagt worden, das Stück erschien inzwischen im Druck und wurde bald darauf im Haymarket-Theatre gegeben. Durch die frühere Veröffentlichung des Textes war wohl das Interesse für die Uraufführung geschwächt worden, doch hatte das Stück dank der Bemühungen der Darsteller einen Achtungserfolg. Der Schauplatz der Handlung ist Korinth und seine unmittelbare Umgebung. Die Ereignisse umfassen zwei Tage.

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