42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

11 III. Akt. Creusa beschuldigt den König des geheimen Einverständnisses mit Pythia bei dem Betrug. Beim Festmahl soll Phorbas mit Hilfe eines Sklaven den Trunk vergiften, den der König Ilyssus darbieten soll. IV. Akt. Aletes gibt sich der Königin als Nicander zu erkennen. Das Gerücht, daß er und sein Sohn ermordet worden seien, hätte er selbst verbreitet, um Creusa vor Schmach zu bewahren. Ion, sagt sie, laute der Name ihres Sohnes, Ion sei also dieselbe Person wie Ilyssus. Die Königin stirbt an dem für Ilyssus - Ion bestimmten Gifttrunk. V. Akt. Phorbas unternimmt einen Mordanschlag gegen das Leben des Königs und des Sohnes. Nicander, der ihm zur Hilfe eilt, rettet Ion, wird aber selbst tötlich verwundet. Um das Stück der englischen Bühne anzupassen, änderte Whitehead den Aufbau des Euripideischen Dramas. Bei der Zeichnung der Charaktere wurden keine wesent¬ lichen Änderungen vorgenommen. Nur Hyssus wurde zu weit in den Hintergrund gedrängt. Die Gestalt des Nicander ist des Dichters freie Erfindung, doch wirkt sie nicht vorteilhaft, da sie nur dazu beiträgt, die Verwicklung noch gekünstelter erscheinen zu lassen als im Vorbild. In der Rolle des weisen Erziehers und väterlichen Freundes zeigt er Ähnlichkeit mit Medon, wobei sich jedoch Talfourd, im Gegensätze zu Whitehead, von aller Lehrhaftigkeit fernhält. Im allgemeinen erscheint die Klarheit des Vorbildes getrübt und Whiteheads Stück darf als ein Erzeugnis der pseudoklassischen Richtung angesehen werden. Trotz der großen Verschiedenheiten, die zwischen dem antiken Drama und seiner englischen Fassung einerseits und Talfourds Tragödie andrerseits in Bezug auf Inhalt und Aufbau bestehen, läßt sich doch eine gewisse Verwandtschaft nicht verkennen, da alle drei Stücke Schicksalsdramen sind. In diesen wirkt das Schicksal als personifizierte Macht, die den Gang der Ereignisse vorherbestimmt, und der eigent¬ liche Antrieb zur Handlung ist. Hiehergehörende Motive sind daher Fluch und Segen, die schwer auf ganzen Generationen lasten und sich schließlich erfüllen, soviel auch die beteiligten Personen dagegen getan haben. Die Schicksalsmächte bestimmen die Handlungen, die anstatt das Ergebnis einer Charakterentwicklung zu sein, zu bloßen Situationen werden, in denen sich die auftretenden Personen bewähren. Ein die drei Stücke vergleichender Aufsatz war in The Gentleman’s Magazine (wol. V. p. 505 f. erschienen, wo behauptet wird, die in Frage stehenden Stücke seien in Bezug auf Charakterzeichnung und Aufbau gänzlich verschieden voneinander. Dieses Urteil kann wohl nur in Bezug auf Talfourds Ion zurecht bestehen, während durch die Inhalts¬ angaben gezeigt wurde, daß Whiteheads Tragödie dem antiken „Ion“ nahe verwandt ist. Talfourds „Ion“ und Whiteheads Stück stehen in gewisser Beziehung zur Schauerromantik, wenn man die Schicksalstragödie als eine besondere Gruppe dieser Literaturperiode, deren Ausläufer sich bis in die Dreißigerjahre des vorigen Jahr¬ hunderts und noch weiter herauf verfolgen lassen, betrachten will. In ihrer „Geschichte der englischen Romantik“ (I, Halle 1911) hat Helene Richter die hervorstechendsten Motive dieser um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden literarischen Erscheinung in folgender Weise zusammengefaßt: 1. Geheimnisvolle Geburt. Eine Hauptperson wächst unter fremdem Namen heran und wird schließlich wieder in die ihr gebührende Stellung eingesetzt. 2. Totgeglaubte oder als tot vorgeschützte Personen. — 3 Ermordung naher Verwandter, 4. Geheimnisvolle Freunde spielen eine große Rolle. — 5. Scheintote kommen vor. — 6. Als Jünglinge verkleidete Frauen erscheinen in mehreren Romanen und Dramen. — 7. Geständnis eigener Liebe in Form einer Erzählung in dritter Person kehrt öfter wieder. — 8. Vom Teufel versucht und geholt werden die Hauptpersonen mehrerer Stücke. — 9. Die Inquisition wird mit Vorliebe hereingezogen. 10. Ein bedeutungsvolles spukhaftes Objekt greift als wichtiger Faktor in die Handlung ein. 11. das dunkle, mittelalterliche Schloß mit verworrenen unterirdischen Gängen,

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