42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

9 dennoch menschlichem Fühlen zugänglich. Als Agenor ihn ermahnt, Buße zu tun, regt sich sein Stolz. Das Schicksal mag ihm Leben und Thron rauben, gegen seinen verzweifelten Mut ist es machtlos. Als er jedoch in. Ion seinen Sohn findet, wird der Tyrann zum Dulder, der ohne Zögern den Todesstoß von Ctesiphons Hand empfängt. Clemanthe ist liebevoll, weichherzig, sentimental; sie unterwirft sich dem Schicksal, als Ion erklärt, sich für alle Zukunft von ihr trennen zu müssen, da er sich ganz seinen Herrscherpflichten widmen wolle. Ihr Verzicht zeugt gewiß von Heroismus. Die Liebesszenen — wenn man sie so nennen darf — sind erfüllt von lyrischer Reflektion. Hierin scheint der Einfluß des altklassischen Dramas vorzuwalten. Wie in den griechischen Dramen bezweckt der Dichter in den lyrischen Szenen, nicht nur Gefühlsergüsse zu beschreiben, sondern auch den Leser oder Hörer mit der Gemütsstimmung der vorgeführten Personen bekannt zu machen. Von den Nebenpersonen treten Ctesiphon und Phocion am meisten hervor, der erstere in seinem maßlosen Rachedurst gegen Adrastus; die Verschwörung gegen den König ist ihm nur ein willkommener Anlaß, seinem Haß die Zügel schießen zu lassen. Während sein Handeln eher dieser Leidenschaft als dem Geheiß des Schicksals folgt, zeigt Phocion anfangs mehr Gehorsam gegen die Götter als seinem König gegenüber. Unter Berufung auf seinen Schwur begeht er einen feigen Mordanschlag gegen Ion. Die großmütige Verzeihung, die ihm Ion gewährt, hat eine Wandlung in seinem Charakter zur Folge, seine republikanische Begeisterung weicht dem Wunsche, Adrastus Sohn in Frieden über Argos herrschen zu sehn. Eine kurze Inhaltsangabe des griechischen Stückes, welches die erste Anregung zur Eröffnungsszene bot, mag zeigen, daß zwischen den beiden Dramen keine große Ähnlichkeit besteht. Der Ort der Handlung ist Delphi. Hermes, der Götterbote, schwebt vom Himmel herab und berichtet, daß vor einer Reihe von Jahren Creusa, Tochter des athenischen Königs Erechtens, von Apollo einen Sohn empfangen und ihn ausgesetzt habe; auf die Bitte seines Bruders brachte Hermes das Kind nach Delphi und legte es im Tempel nieder. Pythia zog den Knaben auf und als er groß geworden, wurde er Hüter des Tempelschatzes. Unterdessen heiratete Creusa Xuthos, König von Euboea. Da diese Ehe bisher kinderlos blieb, soll das königliche Paar, sagt Hermes, vor dem delphischen Orakel seine Bitte vorbringen. Apollo wird seinen eigenen Sohn Xuthos schenken, den er als einen Sohn des Königs bezeichnen wird, damit auch Creusa ihn anerkennen möge. „Ion“ soll der Name des Jünglings sein, „on“ bedeutet: einer, der sich nähert. Der den Rat des Orakels einholende König soll nämlich denjenigen als seinen Sohn betrachten, dem er beim Verlassen des Heiligtumes zuerst begegnen würde. Dann verschwindet Hermes und Ion, die Hauptperson des Stückes wird nun als Tempel¬ wart vorgeführt; er ist schlicht, fromm, dankbar, besonders gegen Apollo, pflichttreu, mit seinem Loos zufrieden. Hierauf kommt der Chor der athenischen Frauen, sie bewundern die Pracht des Tempels ihnen folgt Creusa. Als sie von Ion vernimmt, daß er der Eltern beraubt, ohne Hoffnung sie je wiederzufinden, erzählt sie ihm ihr eigenes Mißgeschick, stellt es jedoch so dar, als ob es einer unglücklichen Freundin widerfahren. Bei der Ankunft des Xuthos bittet sie den Jügling, ihrem Gatten gegenüber nichts von ihrer vertraulichen Mitteilung zu erwähnen. Der Weisung des Orakels folgend, begrüßt Xuthos den Sohn Apollos als seinen eigenen und nennt ihn „Ion“. Vor allem jedoch wünscht der König, Ion möge in der Angelegenheit Schweigen bewahren, um sich nicht mit Creusa zu entzweien. Diese erfährt es aber durch den Chor und versucht den Jüngling zu vergiften. Ihr Anschlag wird entdeckt und Ion verfolgt sie bis zum Altar des Apollo. Pythia legt sich nun ins Mittel, sucht den Jüngling zu beruhigen, bittet ihn, nach seiner Mutter zu forschen und übergibt ihm als Erkennungszeichen einen

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