42. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1912

8 folgenden Morgen zum König gekrönt zu werden. Als Phocions Anschlag, Ion hinterrücks zu ermorden, mißlingt, ersucht ihn Ion, doch bis zum nächsten Morgen zu warten; wenn er es dann an strenger Pflichterfüllung fehlen lasse, die die Not seines Reiches erheische, so werde er mit gleicher Bereitwilligkeit den Tod ertragen, wie er nun die Hand zur Versöhnung reiche. Auf den Knien fleht Phocion um Vergebung. Auf Ions Wunsch verbringt er die Nacht im Palast. V. Akt. Phocion hat erraten, in welcher Weise Ion den Schicksalsspruch deutet, daß er ihn nämlich an sich selbst zu vollstrecken gedenkt. Die edle Versöhnlichkeit, die Ion eben an den Tag gelegt, hat jedoch auch Phocions Freundschaftssinn gestärkt und diesem zum Siege verholfen über den blinden Gehorsam gegenüber dem Geheiß des Schicksals. Es gelingt ihm aber nicht, Ion von seinem traurigen Vorhaben abzubringen, nicht einmal durch den Hinweis auf Clemanthe. Ion will sie bitten, ihm sein Wort zurückzugeben und fürderhin seiner nur als eines verlorenen Freundes zu gedenken. Am Altar begegnen sich die beiden Verlobten. Traurig gedenken sie ihres kurzen Glücks. Ion erklärt, daß die Herrscherwürde sie nunmehr für immer von einander trenne. Er nimmt Abschied von ihr. Ihr ahnendes Herz sagt ihr, daß nicht seine königliche Würde, sondern ein trauriges Geheimnis des Schicksals der Grund ihrer Trennung sei. Nachdem Ion zum König gekrönt ist, und dem Rate der Weisen seine Wünsche und den Bürgern den Schwur auferlegt hat, in ihrem kleinen Staat die Herrschergewalt nicht mehr in die Hände eines einzelnen zu legen, sondern seine Geschicke aus eigener Machtvollkommenheit zu bestimmen, stößt er sich am Altar das Messer in die Brust, welches er schon seit dem Mordanschlage gegen Adrastus bei sich geführt hat. Zur selben Zeit meldet ein Bote, daß die Pest weiche. So erfüllt sich der Schicksalsspruch. Ion stirbt ruhmbedeckt in den Armen seiner geliebten Ziehschwester. Nur der Name des Helden und einige Einzelheiten in der Exposition sind dem „Ion“ des Euripides entlehnt. Wie der verwaiste Jüngling, den uns der griechische Dichter vorführt, wird Talfourds Ion, ein Findling, von einem Priester erzogen und wächst im Tempeldienst heran. Das Motiv der Pest fand der Dichter offenbar in Sophokles „Oedipus rex“. Die Götter suchen das Land mit einer Seuche heim; Adrastus trägt die Schuld an diesem großen Unglück; wie Oedipus will sich Adrastus dem Wahrspruch der Götter nicht unterwerfen. Schon in der Besprechung der Vorrede wurde darauf hingewiesen, welcher Hilfsmittel Talfourd sich bei der Charakterzeichnung bediente. Der reine uneigennützige Charakter des Helden, der wohl Sinn für die Freuden des Daseins hat, jedoch gerne unter Berufung auf seine Pflicht und das Drängen des Schicksals Verzicht leistet, der im Kampfe mit den Mächten der Finsternis sich eigentlich passiv verhält, ist an und für sich kaum einer dramatischen Entwicklung fähig, gibt der Dichter selbst in der Vorrede zu. Um dies dennoch zu ermöglichen, um einen Ersatz für die im Menschen wirkende Leidenschaft zu bieten, wurden andere, der Wahrscheinlichkeit fernstehende Motive in die Handlung eingeführt. Man hat daher, erklärt der Dichter weiter, nicht nur zur altgriechischen Schicksals¬ idee und zu einer Prophezeiung Zuflucht genommen, die sich gleich einer Kette um die handelnden Personen schlingt, sondern auch zur Idee der Bezauberung, deren sich das Fatum bedient, um auf sein Werkzeug einzuwirken und es zur Ausführung ihm nicht zusagender, doch der Erreichung seiner dunklen Zwecke notwendiger Handlungen zu zwingen. Von einer tragischen Schuld Ions kann daher nicht die Rede sein. Er erscheint als die Verkörperung des Guten und hierin kann man die Einheit der Handlung erblicken. Die Einheit der Zeit ist strenge eingehalten worden, der häufige Szenenwechsel wird als keineswegs störende Abweichung von der altgriechischen Auffassung empfunden. Besser motiviert ist der Charakter des Adrastus. Sein Hang zur Ausschweifung und zur Grausamkeit erscheint als Folge des Unglücks, das ihn seit seiner frühesten Kindheit verfolgt. In der Unterredung, die er Ion gewährt hat, zeigt sich der König

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