36. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1906
9 Stifter ist ein Dichter der Sehnsucht und der Erfüllung. Seine Jugend ver- brachte er inmitten von wogendon Feldern und Wll.ldern, an horrlichen Bergen und Seen im scbönon Böbmerwalde. Dann mußte der schlichte Bauorssohn sein von allem Schönen erfülltes IIerz in dio Studierstubo sperren und die schönsten J abre seines Lebens in der Großstsdt verbringen. Da wuchs in ibm die innerliche Sohnsncbt nach der froien Gottesnatur uud er schuf sich eine Woll, in der seine Sohnsucbt Erfüllung suchte und fand. In seinen Naturschilderungen entwickelt er keine derartige Treue wie moderne bodensländigo Dichter des Naturalismus, bei donen jeder bäuerlicbo Dünger- haufen als unabwendbares Naturereignis behandelt wird; Stiftor •acht das Schöno in der Natur; er entwickelt eine ~igene Schöpferkraft aus seinem Herzen heraus; er erzeugt nicht Lichtbilder, sondern GemiiMe. Und in seinen großartigon und ohne Obor- scbwenirlichkeit unerreichten Naturmalereien liegt sein Ruhm, liogt seine Krall;. Seine Schilderungen des Waldes sind, rund gesagt, unnachahmlich. Für ihn gowinnt der Wald Leben wie in Shakespeares .Sommernachtstraum•. Nicht die Menschen sind ibm der Schöpfung Krone, sondern di• unbelebte Natur. Die Menschen verachtet er geradezu, und das Sturmjahr 18-18, das sein stilles und frommes Gemüt heftig erschütterte, bestiirkte ibu in seiner Verachtung. Nur stille und einfache Menschen liebte er und immer wieder flüchtete er in sein stilles Studierstüblein, um hier solche Menschen auszuhecken, und dann rückten die WAnde hinaus und auseinander, und dies• stillen und frommen Menschen schritten hinaus in den Wald, dessen Bäume ein• Tonfolge rauschten, die nur dem Dichterohr hörbar ist. Solche Menschen, die mit dem Walde verwandt sind, sind die Schwestern Klarissa und Johanna im .Hoch• wald" oder der Herr Tiburius im •Waldsteig• oder der llolischläger llanns im , beschriebenen Tännling•. Dann ist Stifter auch dem unbeschreiblichen Zauber der Heide gerecht geworden und schildert sie und ihro Bewohner mit eindringlichster Krall; und mit ungomeiner Anschaulichkeit. Nicht nur die heimische Heide, dio er im .Hoidedorf• uud im .Kalkstein" darstellt, kennt er; sein dichterisches Auge sah auch die ungarische Heide vor sich in „Brigitta", und auch die afrikanischo "'ütite in „Ahdias" ist so geschildert, daß man meinon müßte, Stifter hätte sie selbst gesehen. Die kolossale Einsamkeit, ~ie großartige leblose Natur hat er verlebendigt. Und endlich das dritte: Die Pracht des Hochgebirges, Schnee und Eis in ihrer riesenhafl;en Schönheit. Da bat er der •timmungsfeindlichsten Szenorie Stimmung gegeben, unhörbare Klänge zum Tönen, unsichtbare ~'iusternis zum Leuchten gebracht. In der „Mappe meines Urgroßvaters" wird z. ß. ein Schueet1turm, in „Katzonsilber" ein Hagelschlag mit orgroifänder Macht geschildert. Immer sind ihm dio Menschen dabei nur verzierendes Beiwerk, dienon uur dazu, um die geringo Handlung herbei zu führen, die sieb etwas J>cdanlisch und schleppend gestaltet. Schon die Oberschriften der Kapitel zeigen, daß ibm dio Handluug nicht in Teile, sondern in Schauplätze zerfiel. In „Feldblomc•n" dienen Pflanzennamen als Überschrift~u, im „Kondor" heißen sie „Nachtstück, 'l'agst-ückJ Fruchtstück, lllumcnstück .. , eine cLc11so podantiscbe Ein- teilung zeigt das „Hoidedorf", der „Hochwald", .,Dio Namrnburg:O., ,,IJas alte Siegel„ o. a. Fesselnde Handlung wird man demnach bei Stifter vergeblich •neben, und doch bat er tis verstanden, wenigstens in Einer Erz.ähluug, unsern Anteil auf das HVcbstc zu spannen, in seinem .Meisterstück .Uergkrystall•. .Uorgkrys tall" hieß ursprünglich „Der Weihnachtsabend" und ein seltsamer Weihnacbt.saboud ist es, den iwlli verirrte Kinder erleben. Anstatt heim licbterbekränzttm Cbri~tbaum 1.u sitzen, müssen die Kinder dio Weihnacht inmitten von Schnee und Eis verbringen. Hi•r SJ>ieit Jie Natnr sulbst mit und, ist es Stift.er 11iemah:1 gelnogeu, uns Menschen intere::;sanl zu machen, so hat er es hier vel'8tandcn, uns den stillen Kampf zwtiicr braver und kluger KiudH gegen di e Gewalt det' Naturkräfte so anschaulich zu machen, daß wir mit alt.•ml oscr Spannung die Entwicklung verfolgen. Der leise, gi.'sp1.mstigo ~ 1 nll des Sehne,::::, lli t1 voll,t.ändige Stille der Berglandschaft , das 1>l öt1.liclw , jähe Krachen J cs Ei ses , das 2
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