26. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1896

Diese Epoche des Sturmes und Dranges, für die Geschichte der Umwälzung unserer Literatur in Deutschland ungefähr das, was die französische Revolution für die politische Umwälzung Frankreichs bedeutet, war eine ganz merkwürdige Er¬ scheinung des deutschen Geisteslebens, von der selbst die größten Literaten der Zeit nicht unberührt blieben; sie bedeutet einen Läuterungs- und Reinigungsprocess und war eine nothwendige und heilsame Unterbrechung zwischen der von den genannten Männer angebahnten Epoche und der Vollendung der classischen Literatur. Denn viele Einseitigkeiten wurden aufgehoben, und es kamen ästhetische Charakterzüge in die Literatur, die früher zum Theile oder ganz gefehlt haben; auch kennzeichnete die Dichtungen dieser Periode eine größere subjective Wahrheit und eine objectivere An¬ schauung von Welt und Menschen, dann aber auch eine größere Anschaulichkeit der Darstellung. Man gab es auf, die Wirksamkeit des Denkens und Fühlens einseitig zur Maxime beim dichterischen Schaffen zu machen, und drang auf Genialität, Origi¬ nalität und Volksthümlichkeit. Hell und weit schien in dieser Zeit der Gesichtskreis der deutschen Poesie und gestirt das Firmament, das über diesem geistigen Horizont ausgebreitet war. Doch die Gestirne, welche in den Stürmern und Drängern am literarischen Himmel so vielversprechend aufgegangen waren, sie hatten nur einen vorübergehenden Glanz und wurden bald dauernd durch düstere Wolken verdunkelt. Denn bei allen Vorzügen, welche in den Bestrebungen der Original- und Kraftgenies anerkannt werden müssen, fand die Richtung, welche die neue Schule in ihren dichterischen Producten einschlug, deshalb vielseitigen Widerspruch, weil sie nur zuoft alle künstlerischen und moralischen Gesetze mit Absicht verletzte. Und dieser Widerspruch fand in den drei kritisch-literarischen Zeitschriften der damaligen Zeit — in Weisses „Neuer Bibliothek der Wissenschaften und freien Künste“, in Nicolais „Allg. deutschen Bibliothek und in Wielands „Deutschem Mercur“ - beredten Ausdruck. Die genannten Literaten anerkannten wohl das Gute der stürmischen Schule und wussten auch deren Lichtseiten zu würdigen; aber es blieben ihnen auch die großen Schattenseiten der jungen Dichter nicht verborgen. Sie zeigten, dass die Dichtertalente, bei all ihrem Prahlen von Naturwahrheit, dieselbe in ihren Erzeugnissen doch oft auf das gröbste verletzten und die Kunst aus ihrer idealen Höhe in die Tiefen der Wirklichkeit hinabzogen, wo den Geist die Fesseln blinder Leidenschaft umgaben. So geartet war die geistige Richtung der Zeit, so beschaffen waren die literarischen Tendenzen, als in Göttingen dem deutschen Parnass ein heiterer Morgen zu dämmern begann. II. Gründung und Leben des Bundes. Wie in den Vierzigerjahren des 18. Jahrhunderts die Anakreontiker in Halle und Halberstadt und um die Mitte des genannten Säculums die begabtesten Schüler Gottsches als Gründer und Mitarbeiter der „Bremer Beiträge sich zu einem Bunde, dem Leipziger Dichterverein, zusammenschlossen, wie Berlin um dieselbe Zeit eine ganze Reihe literarisch thätiger Geister um Lessing und Nicolai versammelte und endlich Wien mit seinen Anhängern der Klopstock'schen und Wieland'schen Schule nicht zurückblieb, so hatten sich um das Jahr 1770 in Göttingen eine Reihe von Dichtertalenten zusammengefunden, um literarische Interessen zu fördern.

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