Herder hatte in seinen im Jahre 1767 edierten „Fragmenten zur deutschen Literatur“, die sich als Zusätze zu Lessings Literaturbriefen ankündigten, eine völlig veränderte Auffassung von dem Wesen der Poesie vermittelt, deren Wirkung nicht ausblieb, denn die für literarisches Schaffen begeisterte Jugend, Goethe voran, folgte den gewiesenen Pfaden und brach mit begeisterter Wildheit die Schranken, welche bis dahin den Geist beengten. Neue Bahnen eröffneten sich seit dem Ende der Sechzigerjahre dem geistigen Leben des deutschen Volkes, und in der deutschen Jugend trat eine stürmisch auf¬ und abwogende Gährung ein, welche der nun folgenden Periode in der deutschen Literatur die Signatur des Sturmes und Dranges ausprägte, zu der Hamann und Herder unbewusst den Anstoß gegeben hatten. Unzufrieden mit den engen Schranken, in denen sich die Lyrik bewegte, griffen die Anhänger der neuen Schule zum Drama. In dieser Dichtungsform konnten die Stürmer und Dränger ihre Empfindung in Handlung umsetzen und ihren ungezügelten Thatendrang in der einzigen Form, welche den vollen Schein des Lebens in sich trägt, verkörpern. So konnte es also nicht wundernehmen, wenn man sich mit Vorliebe auf das Feld der dramatischen Dichtung wagte; denn je regelloser, desto genialer, je mehr in den Wunden der Zeit wühlend, desto kräftiger erachteten sich die jungen Geister der neuen Richtung, die dem wilden Treiben, dem sie in ihrer Dichtung oft nur zu zwanglosen Ausdruck verliehen, zum Theile im Leben nachgaben und nicht selten darüber scheiterten. So war diese Zeit eine Epoche des Sturmes gegen alles Regelrechte und Ausländische, eine Epoche des Dranges nach freiem, genialem Schaffen auf nationalem Boden geworden, in der jener Höhestand in der deutschen Literatur angebahnt wurde, welchen später Goethe und Schiller erstiegen. Wie eine Epidemie hatte alle literarischen Geister dieser Periode eine gewisse Naturmanie erfasst, welche in einem unbezwingbaren Drange nach naturtreuer Darstellung und in dem Durchbruch einer subjectiven Maxime gipfelte. Natur war die allgemeine Losung; ihre Kraft war stürmischer Ausbruch, ihre Schönheit Empfindung. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Tendenzen, welchen die Stürmer und Dränger Ausdruck verliehen, nicht allein aus einheimischen, sondern auch aus fremd¬ ländischen Anregungen hervorgiengen, und es liegt auf der Hand, dass mittelbar durch Hamann und Herder Rousseaus Ideen auf die junge Schule den nachhaltigsten Einfluss ausübten. Natur! Natur ist der Ruf, der, alles andere überhallend, aus Rousseaus Schriften dem jungen Geschlechte entgegentönt. Kehrte man aber zur Natur zurück, so musste mit dem Unterschiede der Stände, mit den Vorschriften der Mode und Convenienz, mit der Bildung im engeren Sinne und auch mit der gesellschaft¬ lichen und staatlichen Ordnung gebrochen werden. In diesem Naturdränge, in diesem Streben nach dem Umsturz der conventio¬ nellen Dichtung durch die Verjüngung der Naturpoesie, in dieser Sucht nach freier kraftgenialer Darstellung lag aber auch eine mächtige Opposition gegen alle bisher anerkannten Regeln der Dichtkunst und gegen alles traditionell Giltige und Anerkannte. Dass diese eigenartige literarische Epoche der deutschen Dichtung berechtigtes Aufsehen machte, zumal durch die neu erschienenen Schriften, wie Gerstenbergs „Ugolino“, Goethes „Götz und Klingers „Sturm und Drang“, welches Drama der bewegten Periode den Namen gab, ist begreiflich. In der That, die meisterhaften Kritiken Lessings, die Begeisterung für Shake¬ speare, die Manie für Ossian und die nordische Mythologie, die Wiederbelebung der alten Balladenliteratur und die Verspottung der Franzosen — all das arbeitete ver¬ eint in einem sichtlichen Sturm und Drang der Empörung gegen alles Herkömmliche und gegen jede Regel.
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