26. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1896

Freilich kam es der deutschen Literatur zugute, dass sie unter den übrigen Literaturen die jüngste des neueren Europa war; sie konnte einzelne Fehler vermeiden, welchen jene verfallen waren, und die jungen Kräfte konnten sich an Vorbildern üben, welche, statt beschränkend zu wirken, den eigenen Schaffenstrieb vielfach herausforderten, der nun mit den größten Geistern anderer Literaturen den rühmlichsten Wettkampf begann. Das Auftreten Klopstocks, Lessings, Herders und Wielands bedeutet bereits ein vorgeschritteneres Stadium dieses geistigen Kampfes, da diese Männer dem geistigen Leben des deutschen Volkes in wesentlich verschiedener Weise neue Bahnen brachen. Dass durch die genannten Männer und ihre Anschauungen über das Wesen der Poesie eine förmliche Gährung in die Literaturwelt gebracht wurde, ist unschwer einzusehen; denn die geniale Dichternatur Klopstocks, dessen Gefühlswärme und vaterländischer Freiheitssinn im poetischen Schaffen eine große Empfänglichkeit und begreifliche Begeisterung im deutschen Volke bewirkte und zur Nachahmung heraus¬ forderte, der rastlose und rücksichtslose Forschergeist Lessings, jenes gewaltigen Bahnbrechers der neueren literarischen Entwicklung, der, ganz unabhängig von Klopstock und Wieland, durchaus selbständige Pfade einschlug, und endlich die französischgriechische Genussphilosophie Wielands riefen allseitig Wetteifer und Nachahmung hervor. Dazu gesellte sich noch der geistreiche Theologe Herder, der mit der freien Geistesrichtung und dem kritischen Verständnis Lessings die Resultate verband, welche die beiden Königsberger Gelehrten, der fromme mystische Hamann und der große Philosoph Kant, durch ihre inhaltsreichen Schriften zutage förderten. Dadurch aber, dass Herder in seinen Werken auf den Ursprung aller Sprache und Poesie zurückgieng und uns den tiefen Gehalt des kunstlosen Volksgesanges enthüllte, hat er die Anschauungen Hamanns nach Deutschland getragen und in licht¬ voller Weise zur Geltung gebracht. Hatte doch Hamann, der an religiösem Tiefsinn alle seine Zeitgenossen übertraf und seines dunklen und oft räthselhaften Stiles wegen der Magus des Nordens genannt wurde, auf Herder einen nachhaltigen und dauernden Einfluss geübt. Durch ihn, der dem Gedanken Ausdruck verlieh, dass die Poesie die Sprache eines jeden Geschlechtes sein müsse, wurde Herder mit Shakespeare und Ossian bekannt; und so wurde in ihm der Sinn für volksthümliche Dichtung geweckt, die er hoch über die Kunstpoesie stellt, welche, statt ein Erzeugnis unbewusster Eingebung zu sein, auf unnatürlichem Regelwerk beruhe, oft über gedanken- und sinnlose Gegenstände dichte, Leidenschaften erkünstle und Seelenkräfte nachahme, die gar nicht vorhanden sind. In begeisterten Worten sprach Herder den Grundsatz aus, dass die Poesie auf nationaler Grundlage beruhen müsse, wenn sie eine höhere Bedeutung erlangen soll. Damit ward neben der Originalität auch Volksthümlichkeit für die Werke der deutschen Muse verlangt; die Poesie wurde auf ihre natürliche Grundlage zurückgeführt und der¬ selben ein allgemeinerer Charakter aufgeprägt, wodurch sie erst zum wahren Eigenthum des gesammten Volkes gemacht werden konnte. Die Grundlage aller echten Poesie, so verkündet Herder weiter, beruhe allein im Volke; Höheres und Bleibendes könne nur erreicht werden, wenn man auf den Volksgesang, als die unerschöpfliche Quelle aller Poesie, zurückgehe und sich dessen edle Einfalt und Unmittelbarkeit der Anschauung, sowie sein sinnliches Leben aneigne. Daher empfahl auch Herder, dass man in die Volkslieder aller Zeiten und Völker tiefer eindringe und das Studium derjenigen Dichter besonders pflege, in denen sich das volksmäßige Element am ungetrübtesten zeige, wie die morgenländischen Dichter und namentlich die Bibel. Homer, Ossian, Shakespeare und die altenglischen Volks¬ bücher, von denen Percy im Jahre 1765 eine schätzenswerte Sammlung veranstaltet hatte, waren die Vorbilder, von deren glücklicher und geistreicher Benutzung er Heil und Segen für die deutsche Poesie erwartete.

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