Breitinger, jenen englischen Dichter zum Vorbilde genommen hatte, der in seinen poetischen Schöpfungen mit kühner Phantasie eine übereinstimmende Empfindung verband. Doch das waren lauter Eigenschaften, die dem nüchternen Verstande Gott¬ scheds vollends unbekannt waren. Der literarische Streit, in welchem seit dem Erscheinen von Bodmers Über¬ setzung von Miltons „Verlorenem Paradies alle Schranken der Mäßigung durch Gott¬ sched, diesen eclatanten Vertreter des französischen Perückenstils, überschritten wurden, dauerte fort, bis er sich zu Gunsten der Schweizer entschied, denen sich nach und nach alle jüngeren Talente und selbst die meisten ehemaligen Anhänger des Leipziger Dictators anschlossen. Und niemand wird es in Abrede stellen, dass diese Fehde zur Läuterung des Geschmackes, zur Bildung des Urtheils in literarischer Richtung und zum richtigen Verständnis des langverkannten Wesens der Poesie das ihrige beitrug, niemand wird es aber auch verkennen, dass mit diesem geistigen Kampfe der schönen deutschen Literatur ein heller Morgen gekommen war und die lange ersehnten freundlichen Boten einer neuen Blütezeit zu winken begannen. Wenn Haller, der begeisterte Vorkämpfer der neuen Richtung, mit seinen sitt¬ lich ernsten, religiösen Schöpfungen der bisher nur conventionellen Dichtung neue Anschauungen und Tiefe der Gedanken verlich, indem er sich bestrebte, die Natur durchs Wort nachzuahmen; wenn aus Hagedorns heiterer, weltmännischer Muse Anmuth, Frische und Lebendigkeit sprießen und dadurch ein wesentlicher Fortschritt zu constatieren ist; wenn die Hallenser in den Fußstapfen der genannten Gegner der Gottsched'schen Richtung fortwandelten, die sich Anakreon, Horaz und Petrarca zum Muster nahmen: so war es insbesondere das Auftreten Klopstocks, Wielands, Lessings und Herders, das die neue Richtung entschieden kennzeichnete, wodurch sich die deutsche Literatur, diese jüngste Tochter der christlich-europäischen Cultur, im Verlaufe weniger Jahrzehnte, d. i. von 1730 bis 1770, emporrang und fortan in neue Bahnen einzulenken begann. Diese Thatsache bietet eine desto merkwürdigere Erscheinung dar, je tiefer der deutsche Geschmack gesunken war, und je weniger seine Veredlung von der Gunst der Umstände gefördert wurde. In dem genannten Zeitraume herrschte so wenig, wie in den vorhergehenden Jahrhunderten, irgend ein gemeinschaftliches Nationalinteresse, das der deutschen Dichtung ein neues Leben einzuhauchen geeignet gewesen wäre. Denn dem Bewusstsein der politischen Einheit und der Verfassung des Reiches war schon längst der belebende Geist entflohen. In Deutschland gab es keinen Fürstenhof, wie es etwa Ferrara in Italien und und Versailles in Frankreich für die nationale Poesie war — Klopstock verdankte seine Muße dem Könige Friedrich V. von Dänemark, um seinen dichterischen Beruf erfüllen zu können — die Ausländerei der höheren Stände in Sprache und Sitte fuhr fort, das Erwachen einer nationalen Gesinnung zu hemmen. Zu desto größerem Ruhme gereicht es den deutschen Dichtern, die Wiedergeburt der deutschen Nationalliteratur unter dem Einflusse der religiösen und weltlichen Moral, sowie einer rücksichtslosen Kritik mit Beharrlichkeit und Kraft ins Leben gerufen zu haben. Diese Nationalliteratur aber, aus dem Triebe eigener Lebenskraft hervorgegangen, musste eine Selbständigkeit, Originalität und Universalität entfalten, wie sie keine neue Literatur besaß. Wenn in England die Poesie der Spiegel, wenn sie in Frankreich der reinste Ausdruck des nationalen Lebens war, so sollte Deutschland durch die Tiefe und Fülle seiner Geister eine Literatur zur Erscheinung bringen, welche die gesammte Richtung der geistigen Kräfte der Nation zu bestimmen und zu beherrschen berufen schien.
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