Gottsched setzte mit den Ideen, die er als der gelehrteste Repräsentant eines Opitz in seiner Zeit vertrat, der Tendenz der Epoche, welche der Verstandesmäßigkeit und pedantischen Regelmäßigkeit in der Dichtung huldigte, französische Vorbilder gebrauchte und vom französischen Geschmack fast ganz abhängig war, die Krone auf. Aber schon in dieser Zeit war man auf deutschem Boden zu wesentlich anderen Ansichten über das Wesen, den Zweck und Geist, welcher der Dichtung innewohnen müsse, gekommen. Den Vertretern der deutschen Muse war die richtige Erkenntnis aufgegangen, dass die Poesie eines Volkes der vollkommenste Ausdruck des Geistes und Charakters dieses Volkes sei. Und was dieser deutsche Geist im Laufe der Jahr¬ hunderte durchlebt und gebildet, das sollte jetzt mit Verwertung der für die Poesie nothwendigen Dichtungsformen, wie sie in den Griechen und Römern, wie sie bei den Engländern vorlagen, durch die specifisch nationale Dichtung zum gebürenden Ausdruck gebracht werden. Um dies zu erreichen, musste man sich aber vor allem der Vorbilder entschlagen, an deren Gängelbande man bisher unselbständig gewandelt, aber auch der Unselb¬ ständigkeit in Bezug auf die Auswahl des Stoffes für die deutsche Dichtung, die bisher fast ausschließlich französischem Geschmack ergeben war. Doch nicht genug damit es war eine im Interesse der deutschen Literatur gelegene nothwendige Forderung, mit der verstandesmäßigen Richtung der gelehrt-höfischen Dichtung zu brechen und der französischen Richtung in der schönen Literatur mit aller Macht den Krieg zu erklären. Und dies geschah. Denn in einem großen geistigen Kampfe vollzog sich dieser Bruch zwischen den Anhängern der französischen Schule und deren Gegnern; es vollzog sich die Befreiung von dem schmählichen Druck höfisch eingeschmeichelter Fesseln des französischen Geschmacks und von den erstarrenden Regeln der französischen Schule in der Zeit von 1725 bis 1750 in einem geistigen Turnier, das zwischen den Leipzigern, vertreten durch Gottsched und seine Anhänger, und den Schweizer, vertreten durch Bodmer und Breitinger, entbrannte. Die Fehde wüthete am heftigsten, als in Friedrich dem Großen ein König auf den Thron Preußens gelangte, der durch seine Thaten das Nationalgefühl machtvoll hob und belebte und damit — freilich selber seines indirecten Verdienstes unbewusst auch der deutschen Dichtung einen höheren Schwung gab, als es langjährige Schulstreitigkeiten vermochten. Indem nun Bodmer und Breitinger in diesem Kampfe für die Interessen deutschen Geisteslebens energisch eintraten und der Gottsched'schen Richtung den Fehdehand¬ schuh entgegenschleuderten, vollzog sich ein nicht zu verkennender Wendepunkt, ja ein gewaltiger Umschwung in dem Leben der deutschen Dichtung. Bodmer und Breitinger, beide Männer von vorwiegend kritischer Natur, traten mit der für ihre Zeit nicht genug zu schätzenden Behauptung auf, dass die wahre Poesie in der Nachahmung der Natur bestehe und gleichsam eine redende Malerei sei. Statt des nüchternen Verstandes, der bisher im poetischen Schaffen zum Ausdrucke gebracht wurde, meinten sie, müsse man der Phantasie und der Empfindung freien Lauf lassen und mehr auf den Inhalt als auf die Form achten; auch solle man nicht bei den Franzosen, sondern bei den Engländern mustergiltige Werke zur Nachahmung suchen. Namentlich fanden die Schweizer in Miltons religiösem Epos „Das verlorene Paradies ein Werk, das so recht die Forderung der von ihnen vertretenen Richtung befriedigte. Es riss die Gegner Gottscheds zur wahren Begeisterung für das Wunderbare und Übernatürliche hin, das in diesem herrlichen Producte schöpferischer Phantasie zum Ausdrucke gelangte. Wie Gottsched als ein Mann der Aufklärung, dem alles Wunderbare und Über¬ natürliche in tiefster Seele zuwider war, jetzt gegen Milton und dessen religiöse Poesie zu Felde zog, so griff er später Klopstock an, der sich, gleich Bodmer und
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