Der Göttinger Dichterbund in der deutschen Literatur. Von Prof. Franz Babsch. Die literarischen Tendenzen zur Zeit der Gründung des Göttinger Dichterbundes. Keine Epoche in der Entwicklung der Geschichte der deutschen Literatur weist ein so mannigfaltiges und reiches und zugleich ein so bewegtes Geistesleben auf, wie die Zeit vom Erlöschen der Gottsched'schen Herrschaft bis zum Auftreten Goethes und Schillers. Die Zeit, welche vor Gottsched liegt, die der gelehrt-höfischen Dichtung angehört und in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Literatur als eine Periode der Nachahmung bezeichnet wird, hat die Geister der schönen Literatur, welche sich in den beiden Schlesischen Schulen und in dem Kreise ihrer Gegner bethätigten, vor¬ zugsweise mit der Läuterung und Verbreitung der Ideen eines Martin Opitz beschäftigt, dessen nüchterner Reflexionspoesie sich besonders die zweite Schlesische Schule entgegen¬ stellte, die der Poesie durch ein erkünsteltes Gemüthspathos den nothwendigen Gehalt geben wollte. Was jedoch geschaffen wurde, hatte wohl zum großen Theile nur in formaler Hinsicht seine Bedeutung. Dessenungeachtet wird niemand die großen Verdienste der Literatur dieser Zeit verkennen. In der That, die Zeit der Wirksamkeit des Opitz und seiner Genossen bedeutet für die Literatur den Eintritt des Kunstcharakters in der Poesie der neueren Zeit. Erst am Ende dieser Epoche, um die Wende des 17. Jahrhunderts, als man unter dem Einflusse der englischen und französischen Literatur zu den Anfängen der Polemik, Kritik und Theorie in der Poesie gelangt war, begann sich auch die Dichtung über das Niveau der Mittelmäßigkeit zu erheben, die ihr bisher anhaftete. Noch zur Zeit Gottscheds setzten Dichter und Sprachgelehrte ihren Ruhm meistens in die formale Behandlung der Sprache und des Verses, selten in die Wahrheit der Stimmung und in den einfachsten Ausdruck derselben, noch seltener in die lebendige Durchdringung, fast niemals aber in die angemessene Behandlung eines überlieferten Stoffes. Wenn nun auch in dem genannten Zeitraume bedeutendere Dichternaturen auftraten, die eine größere Beachtung für sich in Anspruch nehmen können, sie vermochten es doch nicht, die deutsche Dichtung auf den nationalen Boden hinzulenken und auf die Fährte originellen Schaffens zu führen, wobei der Dichter der Naturtreue in der Darstellung, der Übereinstimmung mit der Natur und dem freiem Walten des Genies nachzugehen habe. 1*
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