— 21 - Bürgers. So vielfache Veränderungen der Charakter der Romanze und Ballade von Bürger bis Uhland auch erfahren hat, Bürgern bleibt das Verdienst, diese Gattung von Erzählungen, welche in Deutschland untergegangen war, wieder in die neue Literatur eingeführt und zur volksthümlichsten und beliebtesten Dichtung der Deutschen gemacht zu haben. Und in der That, als Bürgers „Lenore“ erschien, da wurde ganz Deutschland von der höchsten Bewunderung ergriffen und hingerissen; durch sie wurde Herders Lehre vom Volksliede in glänzender Weise gerechtfertigt und zum allgemeinen Bewusstsein gebracht. Bürger las dem Grafen F. L. Stolberg, welchen er für den begabtesten der Göttinger Dichter hielt, und der selbst in den nächsten Jahren in der Romanze und Ballade den rühmlichsten Wetteifer mit ihm begann, die eben vollendete Dichtung, an welcher eigentlich der ganze Bund der Göttinger redlich mitgeholfen und mitgefeilt hatte, vor. Im Musenalmanach für 1774 erfolgte der Abdruck dieses herrlichen Geistes¬ productes, das für alle Zeiten ein bleibendes Denkmal der geistigen Beziehungen der Göttinger Musensöhne und Bürgers sein wird. Mit dem Ende des Sommerhalbjahres 1773, dem Ende zugleich auch der akademischen Studienzeit der Stolberge, schieden die Grafen nicht ohne große Rührung aus dem Kreise der Göttinger Freunde und mit ihnen auch der biedere Esmarch. Über Hamburg, wo sie Klopstock begrüßten, und über Altona, wo die Mutter ihrer harrte, begaben sich die Grafen nach Kopenhagen. Hier nahm unter den wissen¬ schaftlichen Beschäftigungen das fortgesetzte Studium der griechischen Sprache und Literatur die erste Stelle ein. Dabei war der Verkehr mit dem fernen Hainbunde nicht unterbrochen; vielmehr wünschten die beiden geschiedenen Bundesbrüder dem Bunde durch die empfohlene Aufnahme Schönborns, der damals die Stelle eines Consulatssecretärs am dänischen Hofe bekleidete und ein guter Freund Goethes war, Zuwachs zu gewähren. Schönborn, welcher gelegentlich einer Reise nach Algier durch Göttingen kam und sich dem Bunde zuliebe daselbst aufhielt, war schon von früherher durch das treffliche Lied von seiner Bergnymphe, das im Musenalmanach vom Jahre 1772 abgedruckt erschien, den Göttinger Bündlern bekannt. Den jungen Dichtern an der Leine und am Sund blieb Klopstock stets der Genius ihres Bundes und ihres Strebens, und Klopstock nahm mit freudiger Genugthuung diese treue Verehrung und Begeisterung der Jünglinge oft persönlich entgegen. In der ersten Hälfte des Jahres 1774 wallfahrteten Boie und Voß nacheinander zu Klopstock nach Hamburg, und die Macht der persönlichen Gegenwart machte sich an ihnen und durch sie im ganzen Bunde geltend. Als Boie von seiner Ende Jänner des genannten Jahres nach Hamburg und Flensburg unternommenen Reise zurück¬ gekehrt war, brachte er von Klopstock ein Buch und einen Brief nach Göttingen mit, der alle Bundesglieder in einen wahren Taumel versetzte, denn der große Seraphische Sänger schrieb, er wolle in den Bund treten. Doch die großen Absichten des Messiassängers blieben wie die Gelehrtenrepublik auf dem Papiere. Der Bund wuchs nicht mehr, sondern nahm mit jedem Semester ab. Noch einmal pulsierte vorübergehend frisches Leben, als die noch in Göttingen befindlichen Bündler — es waren dies Boie, Hölty, Voß, die beiden Miller und Cramer — im Juli 1774 den 50. Geburtstag ihres Meisters Klopstock feierten und die Feier durch die Auf¬ nahme des ihnen schon seit längerer Zeit bekannten Leisewitz erhöhten, der die Hoffnung des Bundes, durch ihn das Fach der dramatischen Poesie zu besetzen, durch seinen „Julius von Tarent erfüllte. Leisewitzens persönliche Betheiligung an der Thätigkeit des Bundes durch poetische Arbeiten war freilich eine geringe, und gehörten die ersten poetischen Ver¬ suche gleichfalls der von allen Göttinger Dichtern vorherrschend gepflegten lyrischen Gattung an. Die einzigen Denkmale literarischer Thätigkeit aus der Zeit vor dem
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