10 geschehen werde, ließ die wissenschaftliche Richtung der dortigen Universität um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht erwarten; denn die einzigen namhaften Dichter in Göttingen, Albrecht von Haller und Gotthelf Kästner, hatten mit dem Betreten des Lehrstuhls, ersterer für Anatomie, Chirurgie und Botanik, letzterer für Mathematik, der Poesie fast ganz entsagt. Es bedurfte also eines ganz besonderen Anstoßes, um den Sinn für das Schöne anzuregen, und diese Anregung gieng mittelbar von Ch. G. Heyne aus. In der That, die große Förderung, welche die deutsche Literatur in Göttingen erfuhr, die nothwendige Anregung und Entwicklung poetischer Talente, ist weniger auf den Bestand der deutschen Gesellschaft für Literatur und Sprache zurückzuführen, deren Vorstand längere Zeit der Philologe Kästner war, sie resultierte vielmehr aus den Heyne’schen Vorlesungen, in denen der Geist der alten Kunst zum Leben aufgeweckt und diese schönste Schule menschlicher Bildung von diesem be¬ geisterten und gemüthsvollen Lehrer erschlossen wurde. War es doch Heyne, der seit seiner Berufung nach Göttingen durch eine lange Reihe von Jahren durch Wort und Schrift mit der philologischen Gründlichkeit seines Lehrers Ernesti einen feinen ästhetischen Geschmack und mit der classischen Literatur der Alten ihre Kunst verband und so der Alterthumskunde jenen Umfang und Gehalt zu geben nicht ermüdete, der erforderlich ist, um auf die Geistesbildung der Nation einen wohlthätigen Einfluss zu üben; war es doch auch Heyne, welcher die Archäologie, oder wie er sie später nannte, die alte Kunstgeschichte mit Rücksicht auf Winckelmann in den Kreis des akademischen Unterrichtes zog und darin ein treffliches Mittel sah, junge Gemüther mit der Liebe zur Kunst zu entflammen und die Alterthumskunde auch in die höheren Stände einzuführen. Heyne war endlich der geschmackvolle Interpret der gewaltigen Dichtersprachen beider Literaturen, der die antike Welt als ein Erbgut von ewig giltigem Werte auffasste und die Dichter des Alterthums als ein Lebendiges, unserem Bewusstsein und Schönheitsgefühl noch Greifbares darzustellen vermochte. So kann denn Heyne mit Recht als die Sonne der schöngeistigen Bestrebungen an der Georgia Augusta bezeichnet werden, die mit ihren segnenden Strahlen die Herzen der Musensöhne für die schöngeistige Richtung entflammte. Es war gewiss von bedeutenden Folgen begleitet, dass sich gerade hier, mitten unter der strebsamen Jugend der noch verhältnismäßig jungen Hochschule, ein literarischer Mittelpunkt bildete, um den sich poetische Talente sammeln konnten. Reichbegabte Jünger der Wissenschaft waren es, die besonders im Verlaufe der Jahre 1768 — 1774 von den entferntesten Gauen der deutschen Lande in Göttingen zusammentrafen und, zunächst weniger von der herrschenden Richtung der Universität, als vielmehr von dem Geiste kühnen, dichterischen Aufschwungs, der damals in vielen Gegenden Deutschlands die wissenschaftlich gebildete Jugend in neue geistige Bahnen fortriss, getrieben, durch ihre vereinte dichterische Thätigkeit an der neuen Epoche unserer Nationalliteratur den rühmlichsten Antheil nahmen und dadurch den Namen Göttingens an diese für immer knüpften. Unter diesen poetisch angeregten und begabten jüngeren Männern der Göttinger Hochschule befand sich auch Ch. Boie aus Meldorf in Dithmarschen im Holsteinischen. Derselbe hatte schon 1769 die Universität in Göttingen bezogen, um daselbst ursprünglich die Rechte zu studieren. Bei der Vorliebe, welche dieser junge Mann jedoch schon während der juridischen Studien für die schöne Literatur besaß, war er es zunächst, der von der Begeisterung der Zeit für die deutsche Poesie in Anlehnung an die Engländer hingerissen wurde, die juridische Laufbahn verließ und sich ganz literarischem Schaffen zuwandte. Obwohl sich Boie auf sein mäßiges dichterisches Talent nicht viel einbilden konnte, so ist er doch für die Entwicklung der schönen Literatur insoferne wichtig und hervorragend geworden, als er es verstand, jüngere und bedeutendere Talente,
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