26. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1896

Sechsundzwanzigster Jahres-Bericht der k. k. Staats-Oberrealschule Steyr. Veröffentlicht am Schlüsse des Schuljahres 1895—96. Inhalt: 1. Der Göttinger Dichterbund in der deutschen Literatur. Von Professor Franz Babsch. 2. Beitrag zur graphischen Bestimmung der Normale. Von G. Hiebel. 3. Schulnachrichten. Erstattet vom Director. Steyr 1896. Herausgeber: Die k. k. Oberrealschul-Direction. Druck von Emil Haas & Cie. in Steyr

Hilfsmittel und Quellen. Geschichte: Schmidt, Julian, Geschichte der deutschen Literatur von Leibniz bis auf unsere Zeit. Leipzig 1886. V. — Hillebrand, Jos., Die deutsche National¬ literatur v. Anf. des 18. Jahrh., besond. seit Lessing, bis auf die Gegenwart, histor. und ästhetisch - krit. dargestellt. Hamb. u. Gotha 1851. — Hettner, H., Literaturgeschichte des 18. Jahrh. Braunschweig 1864. — Gervinus, G. G., Geschichte der deutschen Dichtung. Leipzig. Engelmann 1873. — Gödeke, K., Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung. Hannover 1852, II. — Koberstein, A., Grundriss z. Gesch. d. d. Nationalliteratur. Leipzig 1866, III. — Kurz, H., Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 1870. — Mörikhofer, J. C., Die schweizerische Literatur des 18. Jahrh. Leipzig 1861. — Leixner, Otto von, Geschichte des deutschen Schrifttums. Leipzig, Berlin 1881. Sammlungen und Forschungsschriften: Kürschner, J., Deutsche National¬ literatur. Bd. 92 u. 103, Berlin u. Stuttgart. — Weinhold, K., Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrh. Halle 1868. — Herbst, W., Johann Heinrich Voss. Leipzig 1872, 2. Bd. — Menge, Th., Dr., Graf Friedrich Leopold Stolberg und seine Zeitgenossen. Gotha 1862, II. Bd. — Schlösser, F. W. G., Leben und Werke Gotters. Hamburg 1894. — Halm, K., L. Höltys Gedichte sammt Einleitung und Anmerkungen. Leipzig 1870. — Prutz, Robert, Der Göttinger Dichterbund. Leipzig. Voigt und Günther 1841. — Janssen, Johannes, Ch. u. Fr. Graf Stolberg. Freiburg 1882. — Lewes, G. H., Goethes Leben und Werke. Berlin. Duncker 1874. — Erich Schmidt, Rousseau, Richardson und Goethe. Jena 1875. — A. Sauer, Die Stürmer und Dränger. Kürschners Nationalliteratur, Bd. 8, 10, 12. — Pröhle, H., G. Bürger, sein Leben und seine Dichtungen. 1856. — Redlich, Chiffern Lexikon zu den Göttinger Voßischen Musenalmanachen. Hamburg 1875. — A. Sauer, Die Göttinger Dichter, enth. in Kürschners: Die Nationalliteratur, Bd. 92 u. 203. — C. Redlich, Der Göttinger Musenalmanach. —Schroeter, Ad., Geschichte der deutschen Homerübersetzung im 18. Jahrhundert. Jena 1882. — Hoffmann v. Fallersleben, Weimarer Jahrbuch für deutsche Literatur. 1859. — Suphan, B., Herders sämmtliche Werke. Berlin 1877. Leisewitz, A. J., Ein Beitrag z. Gesch. d. deutschen Literatur im 18. Jahr. v. Greg. Kutschera von Aichbergen. 1876.

Der Göttinger Dichterbund in der deutschen Literatur. Von Prof. Franz Babsch. Die literarischen Tendenzen zur Zeit der Gründung des Göttinger Dichterbundes. Keine Epoche in der Entwicklung der Geschichte der deutschen Literatur weist ein so mannigfaltiges und reiches und zugleich ein so bewegtes Geistesleben auf, wie die Zeit vom Erlöschen der Gottsched'schen Herrschaft bis zum Auftreten Goethes und Schillers. Die Zeit, welche vor Gottsched liegt, die der gelehrt-höfischen Dichtung angehört und in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Literatur als eine Periode der Nachahmung bezeichnet wird, hat die Geister der schönen Literatur, welche sich in den beiden Schlesischen Schulen und in dem Kreise ihrer Gegner bethätigten, vor¬ zugsweise mit der Läuterung und Verbreitung der Ideen eines Martin Opitz beschäftigt, dessen nüchterner Reflexionspoesie sich besonders die zweite Schlesische Schule entgegen¬ stellte, die der Poesie durch ein erkünsteltes Gemüthspathos den nothwendigen Gehalt geben wollte. Was jedoch geschaffen wurde, hatte wohl zum großen Theile nur in formaler Hinsicht seine Bedeutung. Dessenungeachtet wird niemand die großen Verdienste der Literatur dieser Zeit verkennen. In der That, die Zeit der Wirksamkeit des Opitz und seiner Genossen bedeutet für die Literatur den Eintritt des Kunstcharakters in der Poesie der neueren Zeit. Erst am Ende dieser Epoche, um die Wende des 17. Jahrhunderts, als man unter dem Einflusse der englischen und französischen Literatur zu den Anfängen der Polemik, Kritik und Theorie in der Poesie gelangt war, begann sich auch die Dichtung über das Niveau der Mittelmäßigkeit zu erheben, die ihr bisher anhaftete. Noch zur Zeit Gottscheds setzten Dichter und Sprachgelehrte ihren Ruhm meistens in die formale Behandlung der Sprache und des Verses, selten in die Wahrheit der Stimmung und in den einfachsten Ausdruck derselben, noch seltener in die lebendige Durchdringung, fast niemals aber in die angemessene Behandlung eines überlieferten Stoffes. Wenn nun auch in dem genannten Zeitraume bedeutendere Dichternaturen auftraten, die eine größere Beachtung für sich in Anspruch nehmen können, sie vermochten es doch nicht, die deutsche Dichtung auf den nationalen Boden hinzulenken und auf die Fährte originellen Schaffens zu führen, wobei der Dichter der Naturtreue in der Darstellung, der Übereinstimmung mit der Natur und dem freiem Walten des Genies nachzugehen habe. 1*

Gottsched setzte mit den Ideen, die er als der gelehrteste Repräsentant eines Opitz in seiner Zeit vertrat, der Tendenz der Epoche, welche der Verstandesmäßigkeit und pedantischen Regelmäßigkeit in der Dichtung huldigte, französische Vorbilder gebrauchte und vom französischen Geschmack fast ganz abhängig war, die Krone auf. Aber schon in dieser Zeit war man auf deutschem Boden zu wesentlich anderen Ansichten über das Wesen, den Zweck und Geist, welcher der Dichtung innewohnen müsse, gekommen. Den Vertretern der deutschen Muse war die richtige Erkenntnis aufgegangen, dass die Poesie eines Volkes der vollkommenste Ausdruck des Geistes und Charakters dieses Volkes sei. Und was dieser deutsche Geist im Laufe der Jahr¬ hunderte durchlebt und gebildet, das sollte jetzt mit Verwertung der für die Poesie nothwendigen Dichtungsformen, wie sie in den Griechen und Römern, wie sie bei den Engländern vorlagen, durch die specifisch nationale Dichtung zum gebürenden Ausdruck gebracht werden. Um dies zu erreichen, musste man sich aber vor allem der Vorbilder entschlagen, an deren Gängelbande man bisher unselbständig gewandelt, aber auch der Unselb¬ ständigkeit in Bezug auf die Auswahl des Stoffes für die deutsche Dichtung, die bisher fast ausschließlich französischem Geschmack ergeben war. Doch nicht genug damit es war eine im Interesse der deutschen Literatur gelegene nothwendige Forderung, mit der verstandesmäßigen Richtung der gelehrt-höfischen Dichtung zu brechen und der französischen Richtung in der schönen Literatur mit aller Macht den Krieg zu erklären. Und dies geschah. Denn in einem großen geistigen Kampfe vollzog sich dieser Bruch zwischen den Anhängern der französischen Schule und deren Gegnern; es vollzog sich die Befreiung von dem schmählichen Druck höfisch eingeschmeichelter Fesseln des französischen Geschmacks und von den erstarrenden Regeln der französischen Schule in der Zeit von 1725 bis 1750 in einem geistigen Turnier, das zwischen den Leipzigern, vertreten durch Gottsched und seine Anhänger, und den Schweizer, vertreten durch Bodmer und Breitinger, entbrannte. Die Fehde wüthete am heftigsten, als in Friedrich dem Großen ein König auf den Thron Preußens gelangte, der durch seine Thaten das Nationalgefühl machtvoll hob und belebte und damit — freilich selber seines indirecten Verdienstes unbewusst auch der deutschen Dichtung einen höheren Schwung gab, als es langjährige Schulstreitigkeiten vermochten. Indem nun Bodmer und Breitinger in diesem Kampfe für die Interessen deutschen Geisteslebens energisch eintraten und der Gottsched'schen Richtung den Fehdehand¬ schuh entgegenschleuderten, vollzog sich ein nicht zu verkennender Wendepunkt, ja ein gewaltiger Umschwung in dem Leben der deutschen Dichtung. Bodmer und Breitinger, beide Männer von vorwiegend kritischer Natur, traten mit der für ihre Zeit nicht genug zu schätzenden Behauptung auf, dass die wahre Poesie in der Nachahmung der Natur bestehe und gleichsam eine redende Malerei sei. Statt des nüchternen Verstandes, der bisher im poetischen Schaffen zum Ausdrucke gebracht wurde, meinten sie, müsse man der Phantasie und der Empfindung freien Lauf lassen und mehr auf den Inhalt als auf die Form achten; auch solle man nicht bei den Franzosen, sondern bei den Engländern mustergiltige Werke zur Nachahmung suchen. Namentlich fanden die Schweizer in Miltons religiösem Epos „Das verlorene Paradies ein Werk, das so recht die Forderung der von ihnen vertretenen Richtung befriedigte. Es riss die Gegner Gottscheds zur wahren Begeisterung für das Wunderbare und Übernatürliche hin, das in diesem herrlichen Producte schöpferischer Phantasie zum Ausdrucke gelangte. Wie Gottsched als ein Mann der Aufklärung, dem alles Wunderbare und Über¬ natürliche in tiefster Seele zuwider war, jetzt gegen Milton und dessen religiöse Poesie zu Felde zog, so griff er später Klopstock an, der sich, gleich Bodmer und

Breitinger, jenen englischen Dichter zum Vorbilde genommen hatte, der in seinen poetischen Schöpfungen mit kühner Phantasie eine übereinstimmende Empfindung verband. Doch das waren lauter Eigenschaften, die dem nüchternen Verstande Gott¬ scheds vollends unbekannt waren. Der literarische Streit, in welchem seit dem Erscheinen von Bodmers Über¬ setzung von Miltons „Verlorenem Paradies alle Schranken der Mäßigung durch Gott¬ sched, diesen eclatanten Vertreter des französischen Perückenstils, überschritten wurden, dauerte fort, bis er sich zu Gunsten der Schweizer entschied, denen sich nach und nach alle jüngeren Talente und selbst die meisten ehemaligen Anhänger des Leipziger Dictators anschlossen. Und niemand wird es in Abrede stellen, dass diese Fehde zur Läuterung des Geschmackes, zur Bildung des Urtheils in literarischer Richtung und zum richtigen Verständnis des langverkannten Wesens der Poesie das ihrige beitrug, niemand wird es aber auch verkennen, dass mit diesem geistigen Kampfe der schönen deutschen Literatur ein heller Morgen gekommen war und die lange ersehnten freundlichen Boten einer neuen Blütezeit zu winken begannen. Wenn Haller, der begeisterte Vorkämpfer der neuen Richtung, mit seinen sitt¬ lich ernsten, religiösen Schöpfungen der bisher nur conventionellen Dichtung neue Anschauungen und Tiefe der Gedanken verlich, indem er sich bestrebte, die Natur durchs Wort nachzuahmen; wenn aus Hagedorns heiterer, weltmännischer Muse Anmuth, Frische und Lebendigkeit sprießen und dadurch ein wesentlicher Fortschritt zu constatieren ist; wenn die Hallenser in den Fußstapfen der genannten Gegner der Gottsched'schen Richtung fortwandelten, die sich Anakreon, Horaz und Petrarca zum Muster nahmen: so war es insbesondere das Auftreten Klopstocks, Wielands, Lessings und Herders, das die neue Richtung entschieden kennzeichnete, wodurch sich die deutsche Literatur, diese jüngste Tochter der christlich-europäischen Cultur, im Verlaufe weniger Jahrzehnte, d. i. von 1730 bis 1770, emporrang und fortan in neue Bahnen einzulenken begann. Diese Thatsache bietet eine desto merkwürdigere Erscheinung dar, je tiefer der deutsche Geschmack gesunken war, und je weniger seine Veredlung von der Gunst der Umstände gefördert wurde. In dem genannten Zeitraume herrschte so wenig, wie in den vorhergehenden Jahrhunderten, irgend ein gemeinschaftliches Nationalinteresse, das der deutschen Dichtung ein neues Leben einzuhauchen geeignet gewesen wäre. Denn dem Bewusstsein der politischen Einheit und der Verfassung des Reiches war schon längst der belebende Geist entflohen. In Deutschland gab es keinen Fürstenhof, wie es etwa Ferrara in Italien und und Versailles in Frankreich für die nationale Poesie war — Klopstock verdankte seine Muße dem Könige Friedrich V. von Dänemark, um seinen dichterischen Beruf erfüllen zu können — die Ausländerei der höheren Stände in Sprache und Sitte fuhr fort, das Erwachen einer nationalen Gesinnung zu hemmen. Zu desto größerem Ruhme gereicht es den deutschen Dichtern, die Wiedergeburt der deutschen Nationalliteratur unter dem Einflusse der religiösen und weltlichen Moral, sowie einer rücksichtslosen Kritik mit Beharrlichkeit und Kraft ins Leben gerufen zu haben. Diese Nationalliteratur aber, aus dem Triebe eigener Lebenskraft hervorgegangen, musste eine Selbständigkeit, Originalität und Universalität entfalten, wie sie keine neue Literatur besaß. Wenn in England die Poesie der Spiegel, wenn sie in Frankreich der reinste Ausdruck des nationalen Lebens war, so sollte Deutschland durch die Tiefe und Fülle seiner Geister eine Literatur zur Erscheinung bringen, welche die gesammte Richtung der geistigen Kräfte der Nation zu bestimmen und zu beherrschen berufen schien.

Freilich kam es der deutschen Literatur zugute, dass sie unter den übrigen Literaturen die jüngste des neueren Europa war; sie konnte einzelne Fehler vermeiden, welchen jene verfallen waren, und die jungen Kräfte konnten sich an Vorbildern üben, welche, statt beschränkend zu wirken, den eigenen Schaffenstrieb vielfach herausforderten, der nun mit den größten Geistern anderer Literaturen den rühmlichsten Wettkampf begann. Das Auftreten Klopstocks, Lessings, Herders und Wielands bedeutet bereits ein vorgeschritteneres Stadium dieses geistigen Kampfes, da diese Männer dem geistigen Leben des deutschen Volkes in wesentlich verschiedener Weise neue Bahnen brachen. Dass durch die genannten Männer und ihre Anschauungen über das Wesen der Poesie eine förmliche Gährung in die Literaturwelt gebracht wurde, ist unschwer einzusehen; denn die geniale Dichternatur Klopstocks, dessen Gefühlswärme und vaterländischer Freiheitssinn im poetischen Schaffen eine große Empfänglichkeit und begreifliche Begeisterung im deutschen Volke bewirkte und zur Nachahmung heraus¬ forderte, der rastlose und rücksichtslose Forschergeist Lessings, jenes gewaltigen Bahnbrechers der neueren literarischen Entwicklung, der, ganz unabhängig von Klopstock und Wieland, durchaus selbständige Pfade einschlug, und endlich die französischgriechische Genussphilosophie Wielands riefen allseitig Wetteifer und Nachahmung hervor. Dazu gesellte sich noch der geistreiche Theologe Herder, der mit der freien Geistesrichtung und dem kritischen Verständnis Lessings die Resultate verband, welche die beiden Königsberger Gelehrten, der fromme mystische Hamann und der große Philosoph Kant, durch ihre inhaltsreichen Schriften zutage förderten. Dadurch aber, dass Herder in seinen Werken auf den Ursprung aller Sprache und Poesie zurückgieng und uns den tiefen Gehalt des kunstlosen Volksgesanges enthüllte, hat er die Anschauungen Hamanns nach Deutschland getragen und in licht¬ voller Weise zur Geltung gebracht. Hatte doch Hamann, der an religiösem Tiefsinn alle seine Zeitgenossen übertraf und seines dunklen und oft räthselhaften Stiles wegen der Magus des Nordens genannt wurde, auf Herder einen nachhaltigen und dauernden Einfluss geübt. Durch ihn, der dem Gedanken Ausdruck verlieh, dass die Poesie die Sprache eines jeden Geschlechtes sein müsse, wurde Herder mit Shakespeare und Ossian bekannt; und so wurde in ihm der Sinn für volksthümliche Dichtung geweckt, die er hoch über die Kunstpoesie stellt, welche, statt ein Erzeugnis unbewusster Eingebung zu sein, auf unnatürlichem Regelwerk beruhe, oft über gedanken- und sinnlose Gegenstände dichte, Leidenschaften erkünstle und Seelenkräfte nachahme, die gar nicht vorhanden sind. In begeisterten Worten sprach Herder den Grundsatz aus, dass die Poesie auf nationaler Grundlage beruhen müsse, wenn sie eine höhere Bedeutung erlangen soll. Damit ward neben der Originalität auch Volksthümlichkeit für die Werke der deutschen Muse verlangt; die Poesie wurde auf ihre natürliche Grundlage zurückgeführt und der¬ selben ein allgemeinerer Charakter aufgeprägt, wodurch sie erst zum wahren Eigenthum des gesammten Volkes gemacht werden konnte. Die Grundlage aller echten Poesie, so verkündet Herder weiter, beruhe allein im Volke; Höheres und Bleibendes könne nur erreicht werden, wenn man auf den Volksgesang, als die unerschöpfliche Quelle aller Poesie, zurückgehe und sich dessen edle Einfalt und Unmittelbarkeit der Anschauung, sowie sein sinnliches Leben aneigne. Daher empfahl auch Herder, dass man in die Volkslieder aller Zeiten und Völker tiefer eindringe und das Studium derjenigen Dichter besonders pflege, in denen sich das volksmäßige Element am ungetrübtesten zeige, wie die morgenländischen Dichter und namentlich die Bibel. Homer, Ossian, Shakespeare und die altenglischen Volks¬ bücher, von denen Percy im Jahre 1765 eine schätzenswerte Sammlung veranstaltet hatte, waren die Vorbilder, von deren glücklicher und geistreicher Benutzung er Heil und Segen für die deutsche Poesie erwartete.

Herder hatte in seinen im Jahre 1767 edierten „Fragmenten zur deutschen Literatur“, die sich als Zusätze zu Lessings Literaturbriefen ankündigten, eine völlig veränderte Auffassung von dem Wesen der Poesie vermittelt, deren Wirkung nicht ausblieb, denn die für literarisches Schaffen begeisterte Jugend, Goethe voran, folgte den gewiesenen Pfaden und brach mit begeisterter Wildheit die Schranken, welche bis dahin den Geist beengten. Neue Bahnen eröffneten sich seit dem Ende der Sechzigerjahre dem geistigen Leben des deutschen Volkes, und in der deutschen Jugend trat eine stürmisch auf¬ und abwogende Gährung ein, welche der nun folgenden Periode in der deutschen Literatur die Signatur des Sturmes und Dranges ausprägte, zu der Hamann und Herder unbewusst den Anstoß gegeben hatten. Unzufrieden mit den engen Schranken, in denen sich die Lyrik bewegte, griffen die Anhänger der neuen Schule zum Drama. In dieser Dichtungsform konnten die Stürmer und Dränger ihre Empfindung in Handlung umsetzen und ihren ungezügelten Thatendrang in der einzigen Form, welche den vollen Schein des Lebens in sich trägt, verkörpern. So konnte es also nicht wundernehmen, wenn man sich mit Vorliebe auf das Feld der dramatischen Dichtung wagte; denn je regelloser, desto genialer, je mehr in den Wunden der Zeit wühlend, desto kräftiger erachteten sich die jungen Geister der neuen Richtung, die dem wilden Treiben, dem sie in ihrer Dichtung oft nur zu zwanglosen Ausdruck verliehen, zum Theile im Leben nachgaben und nicht selten darüber scheiterten. So war diese Zeit eine Epoche des Sturmes gegen alles Regelrechte und Ausländische, eine Epoche des Dranges nach freiem, genialem Schaffen auf nationalem Boden geworden, in der jener Höhestand in der deutschen Literatur angebahnt wurde, welchen später Goethe und Schiller erstiegen. Wie eine Epidemie hatte alle literarischen Geister dieser Periode eine gewisse Naturmanie erfasst, welche in einem unbezwingbaren Drange nach naturtreuer Darstellung und in dem Durchbruch einer subjectiven Maxime gipfelte. Natur war die allgemeine Losung; ihre Kraft war stürmischer Ausbruch, ihre Schönheit Empfindung. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Tendenzen, welchen die Stürmer und Dränger Ausdruck verliehen, nicht allein aus einheimischen, sondern auch aus fremd¬ ländischen Anregungen hervorgiengen, und es liegt auf der Hand, dass mittelbar durch Hamann und Herder Rousseaus Ideen auf die junge Schule den nachhaltigsten Einfluss ausübten. Natur! Natur ist der Ruf, der, alles andere überhallend, aus Rousseaus Schriften dem jungen Geschlechte entgegentönt. Kehrte man aber zur Natur zurück, so musste mit dem Unterschiede der Stände, mit den Vorschriften der Mode und Convenienz, mit der Bildung im engeren Sinne und auch mit der gesellschaft¬ lichen und staatlichen Ordnung gebrochen werden. In diesem Naturdränge, in diesem Streben nach dem Umsturz der conventio¬ nellen Dichtung durch die Verjüngung der Naturpoesie, in dieser Sucht nach freier kraftgenialer Darstellung lag aber auch eine mächtige Opposition gegen alle bisher anerkannten Regeln der Dichtkunst und gegen alles traditionell Giltige und Anerkannte. Dass diese eigenartige literarische Epoche der deutschen Dichtung berechtigtes Aufsehen machte, zumal durch die neu erschienenen Schriften, wie Gerstenbergs „Ugolino“, Goethes „Götz und Klingers „Sturm und Drang“, welches Drama der bewegten Periode den Namen gab, ist begreiflich. In der That, die meisterhaften Kritiken Lessings, die Begeisterung für Shake¬ speare, die Manie für Ossian und die nordische Mythologie, die Wiederbelebung der alten Balladenliteratur und die Verspottung der Franzosen — all das arbeitete ver¬ eint in einem sichtlichen Sturm und Drang der Empörung gegen alles Herkömmliche und gegen jede Regel.

Diese Epoche des Sturmes und Dranges, für die Geschichte der Umwälzung unserer Literatur in Deutschland ungefähr das, was die französische Revolution für die politische Umwälzung Frankreichs bedeutet, war eine ganz merkwürdige Er¬ scheinung des deutschen Geisteslebens, von der selbst die größten Literaten der Zeit nicht unberührt blieben; sie bedeutet einen Läuterungs- und Reinigungsprocess und war eine nothwendige und heilsame Unterbrechung zwischen der von den genannten Männer angebahnten Epoche und der Vollendung der classischen Literatur. Denn viele Einseitigkeiten wurden aufgehoben, und es kamen ästhetische Charakterzüge in die Literatur, die früher zum Theile oder ganz gefehlt haben; auch kennzeichnete die Dichtungen dieser Periode eine größere subjective Wahrheit und eine objectivere An¬ schauung von Welt und Menschen, dann aber auch eine größere Anschaulichkeit der Darstellung. Man gab es auf, die Wirksamkeit des Denkens und Fühlens einseitig zur Maxime beim dichterischen Schaffen zu machen, und drang auf Genialität, Origi¬ nalität und Volksthümlichkeit. Hell und weit schien in dieser Zeit der Gesichtskreis der deutschen Poesie und gestirt das Firmament, das über diesem geistigen Horizont ausgebreitet war. Doch die Gestirne, welche in den Stürmern und Drängern am literarischen Himmel so vielversprechend aufgegangen waren, sie hatten nur einen vorübergehenden Glanz und wurden bald dauernd durch düstere Wolken verdunkelt. Denn bei allen Vorzügen, welche in den Bestrebungen der Original- und Kraftgenies anerkannt werden müssen, fand die Richtung, welche die neue Schule in ihren dichterischen Producten einschlug, deshalb vielseitigen Widerspruch, weil sie nur zuoft alle künstlerischen und moralischen Gesetze mit Absicht verletzte. Und dieser Widerspruch fand in den drei kritisch-literarischen Zeitschriften der damaligen Zeit — in Weisses „Neuer Bibliothek der Wissenschaften und freien Künste“, in Nicolais „Allg. deutschen Bibliothek und in Wielands „Deutschem Mercur“ - beredten Ausdruck. Die genannten Literaten anerkannten wohl das Gute der stürmischen Schule und wussten auch deren Lichtseiten zu würdigen; aber es blieben ihnen auch die großen Schattenseiten der jungen Dichter nicht verborgen. Sie zeigten, dass die Dichtertalente, bei all ihrem Prahlen von Naturwahrheit, dieselbe in ihren Erzeugnissen doch oft auf das gröbste verletzten und die Kunst aus ihrer idealen Höhe in die Tiefen der Wirklichkeit hinabzogen, wo den Geist die Fesseln blinder Leidenschaft umgaben. So geartet war die geistige Richtung der Zeit, so beschaffen waren die literarischen Tendenzen, als in Göttingen dem deutschen Parnass ein heiterer Morgen zu dämmern begann. II. Gründung und Leben des Bundes. Wie in den Vierzigerjahren des 18. Jahrhunderts die Anakreontiker in Halle und Halberstadt und um die Mitte des genannten Säculums die begabtesten Schüler Gottsches als Gründer und Mitarbeiter der „Bremer Beiträge sich zu einem Bunde, dem Leipziger Dichterverein, zusammenschlossen, wie Berlin um dieselbe Zeit eine ganze Reihe literarisch thätiger Geister um Lessing und Nicolai versammelte und endlich Wien mit seinen Anhängern der Klopstock'schen und Wieland'schen Schule nicht zurückblieb, so hatten sich um das Jahr 1770 in Göttingen eine Reihe von Dichtertalenten zusammengefunden, um literarische Interessen zu fördern.

Die Verehrung für die vaterländische Dichtung Klopstocks, dessen Ruhm Herder verkündete, dessen Werke Schubart sammelte, hatte die jungen Leute, die damals in Göttingen weilten, zu gegenseitig anregender geistiger Thätigkeit vereinigt. Und wie verschiedenartig auch die Naturanlage und der Charakter dieser Musensöhne war, in der Verehrung für Klopstocks weihevolle Dichtung giengen sie alle auf und stimmten einmüthig zusammen. Dass gerade Göttingen damals auserwählt war, eine so hervorragende Pflegestätte literarischen Schaffens zu werden, dass von dieser verhältnismäßig kleinen Stadt Hannovers eine so große Förderung der deutschen Literatur ausgieng, hatte seine guten Gründe. Die unter Georg II. 1737 gegründete Universität Göttingen war damals die Fürstin unter den deutschen Hochschulen, eine weithin strahlende Leuchte in Norddeutschland. Mit königlicher Freigebigkeit von dem genannten Fürsten nach dem Vorbilde der Halle'schen Hochschule und doch als deren Nebenbuhlerin gestiftet und mit dem Grundsatze uneingeschränkter Lehrfreiheit ausgestattet, zog sie nicht bloß aus dem Norden und Süden des deutschen Vaterlandes, sondern auch aus dem fernen Auslande eine zahlreiche und lernbegierige Jugend heran. Fast gleich kräftig blühten hier neben der Theologie die exacten Wissenszweige, die medicinischen, juridischen, die philologisch-historischen Studien. Über zwanzig neue Disciplinen wurden dort im vorigen Jahrhundert in den Kreis der akademischen Lehrfächer eingebürgert, und keine Universität war zugleich literarisch so productiv, wie die Georgia Augusta Göttingens, diese ernste Stätte des Wissens. Schon 1739 bestand hier eine „Deutsche Gesellschaft“, deren Secretär eine Zeitlang Höltys Vater gewesen. Darin sollte auf die Verbesserung der Sprache gesehen, die Aufsätze der jungen Leute sollten geprüft und gebessert werden. Neben der deutschen Sprache sollte sie auch Tugend und Freundschaft pflegen und des patriotischen Hintergrundes nicht entbehren. Doch schon um die Mitte des 18 Jahrhunderts verfiel die Gesellschaft der starren Richtung Gottscheds. Man hatte längst das Gebiet der deutschen Literatur ausgedehnt, indem man nicht nur Sprache, Rhetorik und Poesie, sondern auch Länderkunde, Geschichte deutscher Alterthümer und deutsches Recht unter der Literatur begriff, während die wahre Poesie zur Nebensache wurde. Abgesehen von der Blüte Göttingens, besonders der rechts- und staatswissen¬ schaftlichen Facultät, abgesehen von dem geistig anregenden Verkehr, den die Gelehrten der Georgia Augusta ihren Schülern boten, die daher aus den vornehmsten Kreisen und in großer Anzahl in Göttingen zusammenströmten — es gab noch etwas Hervorragenderes, das dichterische Talente mit fast magischer Gewalt in die freundliche Leinestadt zog, und das war die ausgezeichnete und reichhaltige Bibliothek, welche die einzige vortreffliche Sammlung, englischer Bücher enthielt. War ja doch damals die Zeit, wo unsere Literatur und Wissenschaft mit jugendlichem Enthusiasmus nach England hinneigte. Und diese außerordentlich anregende, englische Literatur war in Göttingens Bibliothek fast vollständig vertreten. Ausschließlich aber besaß die Bibliothek ein Werk, das der Zielpunkt der Geister wurde: Woods „Versuch über das Originalgenie des Homer.“ Diese Schrift war es, welche den frühesten Anstoß zu der ganzen homerischen Frage gab und einen entscheidenden Einfluss auf die Ansichten über die deutsche Poesie und das darin waltende Genie hatte. So kamen denn eine Menge Übersetzer nach Göttingen, diesem vornehmsten Markte der englischen Literatur in Deutschland, woselbst der bedeutende Gewinn, der aus der Bibliothek floss, durch die Verbindungen der Universität und ihrer Curatoren mit England, dem eigentlichen Mutterlande der Göttinger Hochschule, noch wesentlich erhöht wurde. Freilich reiften nur langsam die Früchte am Baume geistiger Entwicklung. Dass gerade für die deutsche Dichtung von Göttingen aus etwas Bedeutendes

10 geschehen werde, ließ die wissenschaftliche Richtung der dortigen Universität um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht erwarten; denn die einzigen namhaften Dichter in Göttingen, Albrecht von Haller und Gotthelf Kästner, hatten mit dem Betreten des Lehrstuhls, ersterer für Anatomie, Chirurgie und Botanik, letzterer für Mathematik, der Poesie fast ganz entsagt. Es bedurfte also eines ganz besonderen Anstoßes, um den Sinn für das Schöne anzuregen, und diese Anregung gieng mittelbar von Ch. G. Heyne aus. In der That, die große Förderung, welche die deutsche Literatur in Göttingen erfuhr, die nothwendige Anregung und Entwicklung poetischer Talente, ist weniger auf den Bestand der deutschen Gesellschaft für Literatur und Sprache zurückzuführen, deren Vorstand längere Zeit der Philologe Kästner war, sie resultierte vielmehr aus den Heyne’schen Vorlesungen, in denen der Geist der alten Kunst zum Leben aufgeweckt und diese schönste Schule menschlicher Bildung von diesem be¬ geisterten und gemüthsvollen Lehrer erschlossen wurde. War es doch Heyne, der seit seiner Berufung nach Göttingen durch eine lange Reihe von Jahren durch Wort und Schrift mit der philologischen Gründlichkeit seines Lehrers Ernesti einen feinen ästhetischen Geschmack und mit der classischen Literatur der Alten ihre Kunst verband und so der Alterthumskunde jenen Umfang und Gehalt zu geben nicht ermüdete, der erforderlich ist, um auf die Geistesbildung der Nation einen wohlthätigen Einfluss zu üben; war es doch auch Heyne, welcher die Archäologie, oder wie er sie später nannte, die alte Kunstgeschichte mit Rücksicht auf Winckelmann in den Kreis des akademischen Unterrichtes zog und darin ein treffliches Mittel sah, junge Gemüther mit der Liebe zur Kunst zu entflammen und die Alterthumskunde auch in die höheren Stände einzuführen. Heyne war endlich der geschmackvolle Interpret der gewaltigen Dichtersprachen beider Literaturen, der die antike Welt als ein Erbgut von ewig giltigem Werte auffasste und die Dichter des Alterthums als ein Lebendiges, unserem Bewusstsein und Schönheitsgefühl noch Greifbares darzustellen vermochte. So kann denn Heyne mit Recht als die Sonne der schöngeistigen Bestrebungen an der Georgia Augusta bezeichnet werden, die mit ihren segnenden Strahlen die Herzen der Musensöhne für die schöngeistige Richtung entflammte. Es war gewiss von bedeutenden Folgen begleitet, dass sich gerade hier, mitten unter der strebsamen Jugend der noch verhältnismäßig jungen Hochschule, ein literarischer Mittelpunkt bildete, um den sich poetische Talente sammeln konnten. Reichbegabte Jünger der Wissenschaft waren es, die besonders im Verlaufe der Jahre 1768 — 1774 von den entferntesten Gauen der deutschen Lande in Göttingen zusammentrafen und, zunächst weniger von der herrschenden Richtung der Universität, als vielmehr von dem Geiste kühnen, dichterischen Aufschwungs, der damals in vielen Gegenden Deutschlands die wissenschaftlich gebildete Jugend in neue geistige Bahnen fortriss, getrieben, durch ihre vereinte dichterische Thätigkeit an der neuen Epoche unserer Nationalliteratur den rühmlichsten Antheil nahmen und dadurch den Namen Göttingens an diese für immer knüpften. Unter diesen poetisch angeregten und begabten jüngeren Männern der Göttinger Hochschule befand sich auch Ch. Boie aus Meldorf in Dithmarschen im Holsteinischen. Derselbe hatte schon 1769 die Universität in Göttingen bezogen, um daselbst ursprünglich die Rechte zu studieren. Bei der Vorliebe, welche dieser junge Mann jedoch schon während der juridischen Studien für die schöne Literatur besaß, war er es zunächst, der von der Begeisterung der Zeit für die deutsche Poesie in Anlehnung an die Engländer hingerissen wurde, die juridische Laufbahn verließ und sich ganz literarischem Schaffen zuwandte. Obwohl sich Boie auf sein mäßiges dichterisches Talent nicht viel einbilden konnte, so ist er doch für die Entwicklung der schönen Literatur insoferne wichtig und hervorragend geworden, als er es verstand, jüngere und bedeutendere Talente,

als er es war, in neid- und selbstloser Weise an sich zu ziehen und ihnen durch seinen Verkehr mit den vornehmsten Gesellschafts- und Gelehrtenkreisen nützlich zu werden. Dabei besaß Boie durch seine Kenntnis fremder Literaturen eine gewisse Universalität des Geschmackes und verband dabei auch ein freies und rücksichtsloses Urtheil. Durch solche Eigenschaften, die sich auch im Verkehr als rücksichtsvolle Urbanität, weltmännische Sicherheit und hilfsbereites Wohlwollen kundthaten, wurde Boie eine Zeitlang der Vertrauensmann der Poetenwelt. Und diese Stellung ward umso fruchtbringender für die strebenden Jünger der deutschen Muse, als Boie seine persönliche Aufgabe darin erblickte, zu vermitteln, zu versöhnen und gerade da die weitherzigste Toleranz zu üben, wo die Geister heftiger aufeinanderplatzten. Unter Boies Verbindungen war vornehmlich die mit F. W. Gotter aus Gotha, der um dieselbe Zeit seine Studien in Göttingen begann, die früheste und zunächst fruchtbarste. Gleiche Bildung und Neigung hatte diese beiden Männer, welche nicht so sehr den exacten Wissenschaften, als vielmehr der schöngeistigen Literatur, be¬ sonders des Auslandes, ihren Fleiß zuwandten, während ihrer wissenschaftlichen Be¬ thätigung an der Georgia Augusta bald fest aneinandergeknüpft. Beide theilten die gesellschaftlichen Verbindungen, beide fanden an dem gelehrten Kästner einen überaus freundlichen Gönner, beide fühlten sich seit 1769 im Heyne’schen Hause sehr wohl. Der vielbeschäftigte Philologe fand noch Zeit, sich mit den beiden strebsamen und wissensfürstigen Musensöhnen über das Leben der Alten und namentlich über die antike Kunst zu unterhalten, und auch seine geistvolle Gattin Therese belebte durch angenehme und bildende Gespräche den Kreis. Nach auswärts giengen Boies wertvolle literarische Verbindungen nach Jena, Halberstadt, Erfurt, besonders aber nach Braunschweig, wo er mit Jerusalem, Gärtner, Zacharia und anderen Literaten bekannt war, und dann nach Berlin, wo er mit vielen literarischen Notabilitäten befreundet ward und sich auch jüngeren Literaten näherte. Voll Theilnahme für die Blüte der deutschen Poesie, persönlich befreundet mit zahl¬ reichen, angesehenen Schriftstellern, kritisch unermüdlich im Feilen und Bessern ohne Fanatismus, ohne Eitelkeit auf seine poetischen Leistungen und dabei in einer leidlichen Wohlhabenheit, fühlte sich Ch. Boie berufen, ein Unternehmen nachzuahmen, wie es der kurz zuvor in Frankreich mit viel Beifall aufgenommene „Almanac des Muses war, der zuerst 1765 in Paris erschien und die gesammte Literatur der Musenalmanache eröffnet hatte. Dabei wurde Boie von seinem Freunde Gotter, einem Dichter der französischen Schule, der gleich diesem als Hofmeister in Göttingen lebte und sich bereits mit einigen poetischen Versuchen einen Namen gemacht hatte, kräftigst unterstützt. So erschien den 1769 bei dem Göttinger Buchhändler Joh. Ch. Dietrich der erste Jahrgang dieser für die Publication literarischer Erscheinungen bestimmten Zeit¬ schrift unter dem Titel „Musenalmanach für das Jahr 1770“, eine Blumenlese neuer gedruckter Gedichte, denen die Herausgeber auch eine Reihe von bisher ungedruckten hinzufügten. Boies Almanach sollte ein vollständig neutraler Boden sein, wo sich Wieland und Klopstock, Gleim und Herder mit gleicher Theilung tummeln konnten und jede Stimme im deutschen Dichterwald laut werden durfte. Es ist bezeichnend für die parteilose Richtung Boies, der sich jedem Schönen und Großen mit idealer Begeisterung zuwandte, wenn er in einem Briefe im Herbste 1773 seinen Grundsatz in den Worten zusammenfasst: „Söhne der Musen sind eines Volkes und haben Frieden!“ Von der Poesie, die im Musenalmanach zur Veröffentlichung kam, war außer den sehr spärlichen Beiträgen von Boie selbst und einigen kleineren Producten von Gotter und den zahlreichen Epigrammen Kästners freilich nicht viel in Göttingen entstanden. Dafür waren die angesehensten Vertreter der damaligen Lyrik, wie Klop¬ stock, Gleim, Ramler, Gerstenberg und Denis in der neuen Zeitschrift zu finden, um die sich auch kleinere, minder bedeutende Versemacher reihten. Obwohl die Edition

12 des Almanach keinen unerfreulichen Eindruck machte, so blieb sie doch auch nicht unbeeinträchtigt von den Angriffen böswilliger Recensenten, besonders von denen aus Leipzig, woselbst gleichfalls ein „Almanach der deutschen Musen“ erschienen war, dessen Redaction von Klotz und einigen Erfurter Freunden besorgt wurde. Doch der zähe Boie wurde dadurch keineswegs entmuthigt, im Gegentheil, gerade diese Concurrenz und dieser Widerstand veranlassten ihn nur umsomehr, neue poetische Verbindungen zu suchen, die alten zu befestigen, um so recht bald eine geschlossene literarische Macht bilden zu können, die im Stande wäre, den Leipzigern den schwankenden Sieg zu entreißen. Und dies ist Boies aufrichtigem und bescheidenem Streben auch glücklich gelungen, denn er behauptete sich mit seinem literarischen Unternehmen vor Kritik und Concurrenz. Als Gotter im Herbste 1769 nach Wetzlar gegangen war, musste es Boie, der nach seines Freundes Abreise den Almanach allein zu besorgen hatte, daran gelegen sein, den Kreis seiner literarischen Bekanntschaften zu erweitern. Mitte December desselben Jahres reiste auch Boie mit dem Sohne eines deutschen Junkers von Göttingen ab. Die ersten Wegstunden verkürzte ihm die Gesellschaft G A. Bürgers, mit dem er seit Gotters Abschied öfters umgieng. Bürger war schon 1768 von Halle nach Göttingen gekommen. Da er anfangs mit Klotz vereint war, dessen lockeres und leichtfertiges Treiben vielen missfiel, hielt sich Boie von Bürger ferne. Erst als es Bürger gelungen war, sich geistig wieder aufzurichten, und als Boie Bürgers ausgezeichnetes poetisches Talent entdeckt hatte, da zog er ihn freundlich an sich, entfremdete ihn freilich nur allmählich jenen früheren frivolen Verbindungen und sorgte zugleich mit Rath und That für ihn. Nach Halberstadt gelangt, machte Boie bei Vater Gleim, dem Protector der deutschen Dichterjugend, eine zweitägige Rast und empfieng daselbst zweifellose Proben des Vertrauens und der freundschaftlichen Zuneigung. Auf Boies Befürwortung unterstützte Gleim, der auf jedes auftauchende poetische Talent lauerte, Bürger in ausgiebigster Weise. Um Weihnachten 1769 kam Boie in Berlin an, wo er schon den ersten Tag seiner Anwesenheit F. Nicolai aufsuchte, der Boie wie einen Freund empfieng und ihm auch die Bekanntschaft mit den übrigen Gelehrten der Hauptstadt versprach. Einige Tage später besuchte er Moses Mendelssohn. Boie war, wie er selbst an seine Schwester schrieb, entzückt von dem kleinen, verwachsenen Mann mit wenig auffallenden jüdischen Zügen, der an Bescheidenheit, Anmuth des Ausdrucks und Gründlichkeit des Wissens seinesgleichen wenige hatte. Den folgenden Tag verbrachte er ganz bei Ramler, „unserem Horaz, wie er ihn damals nannte. Auch hier, wie überall in Berlin, genoss er des besten und freundlichsten Empfanges. So gewann Boie geistige Anregung, Erweiterung seines Gesichtskreises, Menschenund Bücherkenntnis auf allen Seiten. Am meisten aber verdankte er doch Ramler der die fast täglichen Besuche des artigen und eifrigen jungen Mannes gerne sah und mit ihm viel über Literatur, Sprache und Dichtkunst discutierte. Anfangs März 1770 verließ Boie Berlin und begab sich über Potsdam und Sansouci, woselbst er die herrlichen Statuen und Gemälde besichtigte und die Höhe hinter dem Schlosse erstieg wo Ch. C. Kleist einen großen Theil seines von so gefühlvoller Naturanschauung erfüllten Gedichtes „Der Frühling“ abgefasst hat. Sein Führer bei dieser Excursion war ein Officier der Potsdamer Garnison, an den ihn seine Berliner Freunde empfohlen hatten, K. L. v. Knebel, ein Mann, welcher die Poesie unter Kleists Vorbild und Ramlers Anfeuerung eifrig pflegte. An ihm, wie an vielen anderen Freunden, die er sich auf dieser Reise erworben, gewann er eifrige Beiträger zu seinem jüngsten literarischen Unternehmen, dem Musenalmanach, Mitte März 1770 kehrte Boie wieder

13 nach Göttingen zurück, nahm daselbst das Hofmeisteramt bei einem reichen Briten auf und wurde bald darauf der Führer der in Göttingen lebenden Engländer. Bei der umfassenden literarischen Thätigkeit fand jedoch Boic noch Zeit genug, mit den deutschen Bürgern der Georgia Augusta freundliche Berührung zu suchen und Freundschaft zu pflegen. Sehr innig verkehrte er mit den Grafen C. und F. Reventlow, die im Geistes¬ leben Deutschlands später eine nicht unwichtige Rolle spielten, ferner mit dem Mecklenburger Freiherrn Ch. A. v. Kielmansegge und dem Darmstädter Ernst Friedrich Vict. von Falcke. Während der Reise, die Boie zu Pfingsten des Jahres 1771 mit den Grafen Reventlow nach Braunschweig unternahm, erneuerte oder begründete er seine Bekanntschaft mit Lessing, Jerusalem, Ebert, Gärtner, Schmid und Zacharia in einem mehrtägigen lebhaften Umgang. Aber nicht bloß im Verkehr mit vielen jungen Adeligen, noch weniger in dem Verhältnis zu den britischen Wildfängen Göttingens liegt die geschichtliche Bedeutung der Göttinger Jahre Boies, sondern vorzugsweise in seinem Umgang mit einer Anzahl deutscher Jünglinge des bürgerlichen Standes, die sich ihm, dem erfahrenen Mann von Geschmack und feiner Bildung, anschlossen. Der begabteste unter allen war der schon erwähnte Bürger, zu welchem Boie erst nach seiner Rückkehr von der Berliner Reise in nähere Beziehungen trat. Durch eine lange Reihe von Jahren hat sich die Freundschaft zwischen Boie und Bürger bewährt, so grundverschieden beide Männer in Bezug auf ihren Charakter und ihre Naturanlage waren. Hier der weltmännische vorsichtige Boie, dort der studentischleichtsinnige, burschikose Bürger, der kreuz und quer über die Lebenslinie sprang; hier der strenge Beobachter der guten Sitten und dort das Spiel der Leidenschaften. Boies Freundschaft war durch zwanzig Jahre Bürgers Zuflucht. Bei ihm kehrte er mit seinen Wünschen und Sorgen, seinem Über¬ muth und Verzagen ein, freilich nicht immer mit dem offenen Bekenntnis des ver¬ lorenen Kampfes auf seiner, von unsäglicher Sinnlichkeit erfüllten Lebenslaufbahn. Durch diese Freundschaft Boies und die Wertschätzung desselben für Bürgers poetische Versuche sowie die aufrichtige Theilnahme Gleims musste sich der Dichter der „Lenore“, der vor kurzem noch unbeachtet und von allen Redlichen verlassen war, außerordentlich gestärkt und gehoben fühlen: ja noch mehr, er war der Gesell¬ schaft, der Ordnung und einer hoffnungsreichen Zukunft wiedergegeben. Es währte nicht lange, so erhielt er durch vermittelnde Freunde eine amtliche Stellung, die ihn zwar dem Kreise der Göttinger Freunde und Gönner entzog, aber doch nicht so sehr, um zwischen ihm, Boie und anderen Männer den freundschaftlichen Verkehr durch Briefe und Besuche aufzuheben. Als Boie mit Bürger befreundet ward, hatte er selbst den Traum von seinem künftigen Dichterruhme schon ausgeträumt. In ihm, den es immer stärker zur englischen Literatur hinzog, weil der Verkehr mit den jungen Briten Göttingens und die Bibliothek daselbst Antrieb und Mittel genug boten, in ihm, den Shakespeare mit frischer Gewalt erfasste, lebte die Neigung, verborgene Talente, die sich durch äußere hemmende Hindernisse schwer einen Weg zu bahnen vermochten, zu fördern. Darin gieng in der That Boies Hauptthätigkeit während seines ganzen Lebens auf. Ungefähr um dieselbe Zeit, als Boie mit Bürger bekannt wurde, näherte sich dem Begründer des Musenalmanach ein anderer junger Mann, der ein vollkommener Gegensatz zu Bürger genannt werden muss: der Hannoveraner Hölty. Hölty war eine stille, in sich gekehrte, träumerische Natur, die sich ohne Erkünstelung bald liebe und werte Freunde erwarb. Neben ihm erscheint auch fast gleichzeitig J. M. Miller von Ulm in Göttingen, ein Mann von weicher, sanfter, in sich gekehrter Gemüthsart, der dem genannten Hölty jedoch durch die Lebendigkeit und anmuthige Heiterkeit seines süd¬ deutschen Wesens weit überlegen war. Diese beiden neuen Freunde wurden durch Bürger mit Boie bekannt und waren ihm als frische und vielversprechende Kräfte

— 14 für den Musenalmanach, in dem ihre ersten lyrischen Versuche ins Publicum eingeführt wurden, sehr willkommen. Boie selbst wurde wiederum seinerseits durch den geselligen Anhaltspunkt, den er bot, sowie durch die geregelten Studien, zu welchen er die neu gewonnenen literarischen Freunde ermunterte, und durch die mühsame und sorgliche Correctur, welcher er ihre poetischen Leistungen unterwarf, für sie von großem und dauerndem Einflusse. So herrschte denn ein reges und fruchtbares Leben und Streben in dem engen Kreise: Boie war der Führer zur englischen Literatur, wie Miller zu den Minnesängern, Bürger regte zum Spanischen an, und Hölty theilte das Italienische mit. Hin und wieder gab ein Gelegenheitsgedicht, dessen Bestellung durch Boies Hände gieng, Veranlassung zu heiterem Scherz und fröhlichen Gelagen. Doch es sollte noch besser werden. Aus der Ferne kam Boie die erste Kunde von Joh. H. Voß, auf welchen Professor Kästner aufmerksam machte, dem Voß im Juli 1771 einige Gedichte aus Ankershagen bei Neustrelitz für den Göttinger Musenalmanach zugeschickt hatte. Voß wandte schon früher dieser literarischen Zeitschrift Göttingens seine Aufmerksamkeit zu. Hier, an der im ersten frischen Werden aufgegriffenen Lyrik, wo vor¬ nehmlich eine strebende Jüngerschaft zu Worte kam, fand Voß einen Maßstab, Grad und Art seines eigenen Talentes zu prüfen. Es entspann sich nun ein Briefwechsel mit Boie, der für Voßens nächste Zukunft, ja für sein ganzes Leben entscheidend war. Doch des jungen Dichters Verpflanzung auf die Hochschule stieß anfangs auf Schwierig¬ keiten. Boies Brief vom October 1771 an Voß klingt nicht sehr ermunternd. „Göttingen sei nicht der Ort, wo man ohne alle Mittel fortkommen könne; die Collegiengelder wolle er ihm frei schaffen, und dann sei es möglich, mit hundert Thalern zu leben.“ Neben dem Hofrath Kästner interessierte Boie auch den Gelehrten Heyne, denn er als „einen der verehrungswürdigsten Menschen“ preist, die er kenne, für den Dichter und lud Voß ein, zu Ostern 1772 nach Göttingen zu kommen. Boie wandte sich nun, um einen Freitisch zu erhalten, mit Voßens Gedichten an den damaligen geheimen Kanzleisecretär Georg Brandes in Hannover, der darin „Zeugen des Genies und edlen Herzens“ erkennt und das Gesuch für Michaelis zu erfüllen verspricht. Selbst Ramler und Gleim, dem Boie die Versuche schickte, versprachen sich von dem jungen Dichter Großes. Boie erkannte in Voß einen Mann achtenswerten Strebens und kräftiger Gesinnung. Besonders durch die Bescheidenheit, mit welcher Voß die freundschaftliche Kritik seiner im Almanach veröffentlichten Gedichte aufnahm, und durch die kernhafte männ¬ liche Gesinnung, die der spätere große Homerübersetzer an den Tag legte, wurde Boie in einem solchen Grade für seinen neuen Schützling gewonnen, dass er zu Gunsten desselben die erwähnten Verbindungen mit Kästner und Heyne benützte, um Voß die Studien an der Universität zu ermöglichen. Auch den einzuschlagenden Studienweg berieth Boie mit Voß. „Es ist gut schreibt er am 4. März 1772, „dass man gleich anfangs alles nach einem Plane ein¬ leitet. Wozu treibt Sie Ihre Neigung am meisten? Haben Sie schon das Griechische getrieben, und wie weit sind Sie darin? Ich setze voraus, dass Sie sich unter Heynes Führung vorzüglich der alten Literatur widmen werden.“ So war durch die selbstloseste Unterstützung Boies unserem Voß im Mai 1772 der Weg nach Göttingen und damit zu der schönsten Lebenshoffnung geebnet. Und in der That, Göttingen war in Voß Lebensentwicklung ohne Frage die entscheidende Station, der Frühling seines Lebens nach vielen düsteren Jahren voll Kälte und Druck. Nicht bloß die Georgia Augusta und die Hauptvertreter der alten Literatur wirkten auf Voß; es war ihm dort noch Größeres vorbehalten. Der Göttinger Aufenthalt prägte Voß für Leben, Dichten und Wissenschaft die Signatur auf, die ihm wie ein un¬ zerstörbarer Charakter eigen blieb sein Leben lang. Dort hat sich Voß wissenschaftlich orientiert, aber auch in dem Gegensatz gegen seines Meisters (Heyne) Schule festgesetzt, der seine ganze Zukunft durchzieht;

15 dort hat er als Dichter die Wege eingeschlagen, auf denen er fortgewandelt ist, dort hat er den Freundschaftsbund geschlossen, aus dem in Liebe und Kampf die Hauptfäden seines persönlichen Lebens gewebt sind, in Göttingen endlich haben seine Charakterbildung und seine Grundsätze in den großen Fragen des Lebens und der Zeit dauernde Gestalt gewonnen. Unter dem Völkchen, das Boie in einem im Jänner 1772 an Knebel gerichteten Brief als „parnassum in nuce“ bezeichnet, das aus einigen feinen jungen Köpfen besteht, die zum Theile auf gutem Wege sind, versteht er neben Bürger: den Hannoveraner Hölty, die beiden Ulmer Vettern Miller, von denen der ältere Johann Martin seit October 1770 als Theologe, der jüngere Gottlob Dietrich seit October 1771 als Jurist immatriculiert war. Wann der Theologe J. Th. L. Wehrs mit dem Boie'schen Kreise in Berührung trat, lässt sich schwer feststellen. Boies Ziehbruder, der biedere Ch. H. Esmarch, der Sohn eines Predigers zu Boël in Angeln und spätere treue Freund der Voßischen Familie, seit 1771 zum Studium der Theologie in Göttingen. wird als stiller Genosse den Dichtern nahegestanden haben. Entscheidend für die Entwicklung des Dichterkreises, der sich hier in Göttingen, genährt und gekräftigt durch die Impulse der gährenden Zeit und das Vorbild tonangebender Geister, zusammenschloss, war es unstreitig, dass Voß seine Studien an der Göttinger Hochschule aufnahm. Der jugendliche Dichterkreis, in den Voß hier eintrat und in ihm die Freuden hoch¬ gestimmter Freundschaft bestärkte, bestimmte ihn in seinem Dichterberufe. Zu dem Studienleben unseres Voß war in Göttingen ein Studentenleben edelster Art hinzu¬ getreten. Aus der fast freundlosen Umgebung seiner Heimat wie mit einem Zauber¬ schlage in den reichsten Geistesverkehr versetzt, musste Voß aufleben wie in einer neuen Welt. Was hier poetisch förderte, bildete auch ethisch, und nie wieder ward dieses harte Leben von einer gleichwarmen Sonne beschienen. So war der Verlust Bürgers, der kurz zuvor nach Gelliehausen übersiedelte, um sich dort zur Übernahme der Amtmannsstelle im Gerichte von Altengleichen bei Göttingen vorzubereiten, ausgeglichen, und nicht dieser, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre, wurde das Haupt des späteren Bundes, sondern Voß. Gleichzeitig gewannen der Gother Advocat Schack Hermann Ewald, der sich als Hofmeister eines Herrn von Schulthes in Göttingen aufhielt, und der junge K. F. Cramer aus Lübeck mit dem Boie'schen Kreise Fühlung. Im August 1772 trat endlich noch der Pfälzer J. F. Hahn der Vereinigung näher, als ein herrlicher Kopf aufs lebhafteste begrüßt Schon im Mai 1772 hielt diese Gesellschaft unter Boies Vorsitz gewöhnlich am Sonntag bei einem oder dem andern Versammlungen ab, wobei man die neuentstandenen dichterischen Versuche vorlas, ohne Schmeichelei beurtheilte, und Boie verbesserte, der umso unparteiischer sein konnte, als er selbst nicht um den Lorbeer rang. Diese dichterischen Zusammenkünfte wurden bald immer häufiger, regelmäßiger und vielfältiger belebt. „Unser Parnass kommt immer weiter“, schrieb Boie Knebeln am 4. Juni 1772 „ich habe eine Menge von glücklichen Versuchen von allerlei Verfassern vor mir. Meisterwerke müssen Sie allerdings nicht gleich erwarten. Wir haben unsere wöchentlichen Zusammenkünfte, wo wenigstens nicht geschmeichelt wird.“ Auch Voß charakterisierte wenige Wochen nach seiner Ankunft in Göttingen in einem Briefe an seinen Freund, den Pastor Brückner in Ankershagen, wo er einst Hofmeister war, diese Gesellschaft. „Wie glücklich wäre ich, schreibt Voß am 17. Juli 1772, „wenn Sie, lieber Pastor, mit unter der Gesellschaft wären, die mir so manche angenehme Stunde schenkt. Ich muss Sie Ihnen doch hernennen: Hölty, ein sehr malerischer Dichter; beide Miller, Vettern und Minnesänger; Wehrs, mehr Beurtheiler als Dichter; Ewald, ein feuriges Genie; K. F. Cramer, ein Sohn des berühmten Kanzlers und Curators der Kieler Universität, J. A. Cramer, von dem Sie die Ode auf den Tod Bernstorffs kennen, ein Kopf, der ungemein viel verspricht;

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