24. Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1894

und weist auf die aufrichtige Freundschaft, welche Iphigenie für sie hegt. Doch Eriphile ist untröstlich und zählt all ihr Missgeschick auf, welches ihr ganzes Leben bisher erfüllt; seit ihrer frühesten Kindheit sei sie fremden Händen anvertraut und kenne nicht einmal ihre Eltern; nach einem Orakelspruch könne sie nicht ihre Herkunft erfahren, ohne zu sterben; auf dem Wege nach Troja, wo sie zu Ansehen kommen sollte, sei sie auf Lesbos in die Hände des Achilles gerathen und zu seiner Sclavin geworden. Doris weist sie an Calchas, der so gut alle Geheimnisse kenne, und erinnert sie an den mächtigen Schutz, der ihr auf die Fürbitte ihrer Freundin durch deren Verbindung mit Achilles sicher sei. Doch die Erwähnung dieser Verbindung entlockt ihr das Geständnis, dass sie Achilles, den sie nur hassen sollte über alles liebe, und dass sie nur hieher gekommen sei, um deren Glück zu stören. Agamemnon hat unterdessen seine Tochter umarmt und will sich entfernen; Iphigenie hält ihn zurück und bittet ihn, da sie ihn sehr besorgt findet, mit Rücksicht auf die lange Trennung, die ihnen bevorstehe, doch einen Augenblick seinen Rang vor ihr zu vergessen. Sie erwähnt dann das Opfer, welches Arcas vorbereite, und fragt, ob sie demselben beiwohnen könne. Ihr Vater erwidert ihr kurz, dass sie dabei sein werde, und entfernt sich. Iphigenie ist über diesen kalten Empfang überrascht und fürchtet irgendein Unglück. Noch mehr befremdet sie das Verhalten des Achilles, der sich so wenig beeilt, sie zu sehen. Inzwischen hat Arcas der Königin, die er erst nach ihrer Ankunft traf, weil sie vom Wege abgeirrt waren, den Brief des Agamemnon überreicht und zugleich den Verdacht ausgesprochen, dass den plötzlichen Gesinnungswechsel Achills seine Liebe zur schönen Eriphile verursacht habe. Voll Entrüstung eilt sie mit dieser Nachricht zu ihrer Tochter und fordert sie auf, schleunigst nach Argos zurückzukehren, und an Eriphile sich wendend, sagt sie, sie brauche ihnen nicht zu folgen, und macht einige Andeutungen auf ihre geheimen Pläne. Iphigenie erkennt bald, dass es sich um die Liebe ihrer Freundin zu Achilles handelt, und macht ihr die bittersten Vorwürfe über ihre Treulosigkeit und namentlich deshalb, weil sie mit ihr davon nicht vor ihrer Abreise gesprochen. Nun erscheint Achilles und wundert sich, sie hier zu sehen. Iphigenie antwortet ihm gereizt, dass sie nicht mehr lange hier sein werde. Als Achilles merkt, dass Iphigenie ihn flieht, kann er ihr Verhalten nicht begreifen und fragt daher Eriphile, warum sie nach Aulis gekommen seien. Diese vermag ihre Verwunderung über diese Frage nicht zu unterdrücken, da nach ihrer Ansicht nur seine Liebe zu Iphigenie dazu Veranlassung gegeben habe, und nimmt eine Änderung in seiner Gesinnung an. Doch Achilles versichert sie, dass er mehr wie je Iphigenie liebe, und beklagt sich nur, dass man ihn meidet und, angeblich aus Rücksicht auf seinen Ruhm, diese Liebe zu bekämpfen sucht. Über diese Worte ist Eriphile tief betrübt, doch hält sie das Glück der Iphigenie aus vielen Anzeichen noch nicht für gesichert und hofft wenigstens, nicht ungerächt sterben zu müssen. Clytämnestra hat unterdessen ihr Vorhaben ausgeführt und sich mit Iphigenie auf den Rückweg begeben. Sobald Achilles davon hört, eilt er ihnen nach, beschwört sie zurückzukehren und betreibt aufs eifrigste seine angeblich aufgeschobene Verbindung mit Iphigenie. Ihr Vater stellt sich zufrieden und willigt ein; zugleich schildert er der Königin, wie unpassend es für sie wäre, mitten im Lager der Griechen beim Altare zu erscheinen; nur schwer kann sie sich entschließen, diesen Feierlichkeiten fernzubleiben. Voll Glück, der Erfüllung seiner Wünsche so nahe zu sein, erscheint Achilles und willigt bereitwilligst in die Freilassung der Eriphile, welcher sich Iphi¬ genie so warm angenommen. Die Vorbereitungen zum Opfer sind nun getroffen, und es erscheint Arcas, um Iphigenie zum Altare abzuholen. Bei dieser Gelegenheit verräth er die Absicht Agamemnons, seine Tochter opfern zu wollen. Alle sind darüber auf das höchste ent-

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